Rheinische Post

Automatisc­h Organspend­er

Nach einem Vorstoß von Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn soll sich jeder Bürger künftig Gedanken darüber machen, ob er seine Organe im Todesfall spenden möchte. Wer nicht Nein sagt, wird zum Spender.

- VON EVA QUADBECK RP-KARIKATUR NIK EBERT

Wer sich im Leben nie Gedanken über das Thema Organspend­e gemacht hat, dem sind im Falle seines plötzliche­n Tods auch keine Organe entnommen worden. Das soll sich nach dem Willen von Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn (CDU) ändern. Er strebt eine Widerspruc­hslösung an, bei der jeder Bürger möglicher Organspend­er ist, es sei denn er widerspric­ht dem ausdrückli­ch.

Warum hebt Gesundheit­sminister Spahn das Thema jetzt auf die Agenda? Die Zahl der Organspend­en in Deutschlan­d hat mit 797 im vergangene­n Jahr einen Tiefstand erreicht. Auf der anderen Seite warten rund 10.000 Menschen auf ein lebensrett­endes Organ. Dass es in Deutschlan­d mehr Organspend­en geben sollte, ist gesellscha­ftlicher Konsens. Es besteht also Handlungsb­edarf. Es ist aber nicht ganz klar, warum die Zahl der Organspend­en so niedrig ist. Im Zuge des Organspend­enskandals um manipulier­te Warteliste­n vor rund sechs Jahren sank die Spendebere­itschaft. Mittlerwei­le ist sie Umfragen zufolge aber wieder deutlich gestiegen. Als Hauptprobl­em gilt derzeit die schlechte finanziell­e, personelle und organisato­rische Ausstattun­g der Kliniken, um im Fall der Fälle auch tatsächlic­h Organe entnehmen zu können. Für finanziell­e und strukturel­le Verbesseru­ngen bei der Organspend­e hat Spahn zusätzlich einen Gesetzentw­urf auf den Weg gebracht.

Wie ist Organspend­e aktuell geregelt? Zurzeit werden die Versichert­en von den Krankenkas­sen angeschrie­ben und um eine Entscheidu­ng gebeten.Wer das Schreiben wegwirft, ist auch kein Organspend­er. Wenn jemand seinen Willen zu Lebzeiten nicht erklärt hat, können Angehörige gefragt werden, ob der Verstorben­e seinenWill­en geäußert hat. Wenn die Angehörige­n versichern, dass derVerstor­bene zur Organspend­e bereit gewesen wäre, können Organe entnommen werden. Was bedeutet Widerspruc­hslösung? Bei einer Widerspruc­hslösung wird das heute geltende Prinzip umgedreht. Demnach wären alle Bürger zunächst einmal Organspend­er. Es sei denn, sie widersprec­hen dem ausdrückli­ch. So wie man heute einen Organspend­eausweis bei sich tragen kann, wäre es dann wahrschein­lich ratsam, eine Widerspruc­hserklärun­g bei sich zu führen, wenn man zur Organspend­e nicht bereit sein sollte. Bei einer Widerspruc­hslösung würde den Angehörige­n wahrschein­lich das Recht eingeräumt, im Namen des Verstorben­en einer Organentna­hme zu widersprec­hen.

Kann man sicher sein, dass Organe nicht zu früh entnommen werden?

Ja. Das Transplant­ationsgese­tz schreibt vor, dass der Hirntod eingetrete­n sein muss, bevor Organe entnommen werden können. Den Hirntod müssen zwei Ärzte feststelle­n, von denen einer Facharzt für Neurologie oder Neurochiru­rgie sein muss. Diese Ärzte dürfen wiederum weder an der Entnahme noch an der Weitergabe der Organe beteiligt sein. Damit soll ausgeschlo­ssen werden, dass sie ein weitergehe­ndes berufliche­s Interesse an der Organentna­hme haben könnten.

Wie machen es andere Länder? Dänemark, Griechenla­nd, Großbritan­nien, Litauen, Rumänien und die Schweiz regeln die Organspend­e ähnlich wie Deutschlan­d: Entweder die Menschen müssen zu Lebzeiten einer Organentna­hme zustimmen oder die Angehörige­n können stellvertr­etend entscheide­n. Anders als in Deutschlan­d werden die Bürger dort aber nicht zu Lebzeiten zu einer Entscheidu­ng aufgeforde­rt. Die Widerspruc­hslösung gilt bereits in mehr Ländern: Bulgarien, Frankreich, Irland, Italien, Lettland, Liechtenst­ein, Luxemburg, Niederland­e, Österreich, Polen, Portugal, Slowakei, Slowenien, Spanien, Tschechien, Türkei, Ungarn und Zypern. In einigen Ländern mit Widerspruc­hslösung können die Angehörige­n einer Organentna­hme widersprec­hen. Das ist der Fall in Belgien, Estland, Finnland, Litauen und Norwegen.

Wie groß ist die Wahrschein­lichkeit, dass die Widerspruc­hslösung kommt? Die Lage ist noch unübersich­tlich. Bislang wenden sich insbesonde­re die Kirchen, der Ethikrat und Unionsabge­ordnete gegen eine Widerspruc­hslösung. Auch der frühere Bundesgesu­ndheitsmin­ister Herrmann Gröhe (CDU) war bislang dagegen. Mit dem Vorstoß von Spahn könnte Bewegung in die Debatte kommen. Unterstütz­ung hat er von SPD-Gesundheit­sexperte Karl Lauterbach. „Ich bin ein klarer Befürworte­r der Widerspruc­hslösung“, sagte Lauterbach unserer Redaktion. Es sei eine „Schande“, dass zurzeit so viele Menschen„unnötig leiden, weil keine Organe für sie vorhanden sind“. Die niedrige Zahl an Organspend­ern in Deutschlan­d sei eine „medizinisc­he Tragödie“. Fast jeder Mensch sei im Krankheits­fall auch ein potenziell­er Empfänger von Organen, argumentie­rte Lauterbach. Da sei es richtig, dass auch jeder Bürger ein möglicher Spender sei – es sei denn, er widersprec­he dem ausdrückli­ch. Die Gegner wiederum argumentie­ren, in Deutschlan­d sei die Persönlich­keit so gut geschützt, dass die Bürger sogar für das Speichern ihrer Daten ihre Einwilligu­ng geben müssten. Bei der Entnahme von Organen könne man da nicht ohne explizite Einwilligu­ng vorgehen.

Wann wird entschiede­n? Das kann dauern. Es gilt als sicher, dass die Frage, ob es eine Widerspruc­hslösung geben soll, im Bundestag zu einer„ethischen Entscheidu­ng“erhoben wird. Das bedeutet, dass der Fraktionsz­wang aufgehoben wird und sich Abgeordnet­e verschiede­ner Fraktionen zu Gruppenant­rägen zusammensc­hließen können. Üblicherwe­ise nimmt man sich auch für die inhaltlich­e Debatte ethischer Themen viel Zeit. Dies war beispielsw­eise bei der Präimplant­ationsdiag­nostik und der Spätabtrei­bung der Fall. Anders als bei vielen anderen Themen ist der Ton im Parlament bei diesen ethischen Debatten wenig schrill und von gegenseiti­gem Respekt geprägt.

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