„Das beste Deutschland, das wir je hatten“
Sachsens Ministerpräsident ärgert sich über die „Miesepeter“und fordert von den Volksparteien den „Vorwärtsgang“.
BERLIN Michael Kretschmer war 14 Jahre alt, als die Mauer fiel. Seit Ende 2017 regiert der CDU-Mann Sachsen. Er erinnert sich gut an das Gefühl, als er mit seinen Großeltern in der DDR vor dem Sperrzaun am Brandenburger Tor stand: „Sehr bedrückend“.
Herr Kretschmer, was bedeutet Ihnen der Tag der Deutschen Einheit?
KRETSCHMER Ich bin immer noch glücklich und ergriffen von der Wiedervereinigung. Sie ist das größte Wunder in meinem Leben – neben der Geburt meiner Söhne.
Ist nach 28 Jahren zusammengewachsen, was zusammengehört?
KRETSCHMER Nach einer so langen Zeit sind auch die damals in den Osten gezogenen Westdeutschen Sachsen oder Thüringer. Statt Ost und West haben wir vielmehr Parallelen zwischen Sachsen und Bayern und Hessen – und genauso viele Unterschiede zu Ländern wie Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein.
Keine spezifischen Probleme, Benachteiligungen der Ostdeutschen?
KRETSCHMER Die Herausforderungen, die wir heute haben, sind unsere gemeinsamen im ganzen Land. Und es sind Herausforderungen, die wir uns vor 1990 gewünscht hätten. Der 3. Oktober ist immer wieder die Gelegenheit, dankbar zu sein für soziale Marktwirtschaft, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie.
Warum bricht gerade in Sachsen Hass von Rechtsextremisten auf, was ist die Lehre von Chemnitz?
KRETSCHMER Rechtsextremismus ist durch nichts zu entschuldigen, die Täter müssen schnellstmöglich verurteilt werden. Wir müssen den Kampf gegen Rechtsextremismus und für Demokratie intensiver führen, weil wir das Ausmaß unterschätzt haben. Aber: Die Chemnitzer dürfen nicht an den Pranger gestellt werden. Es braucht auch keine martialische Sprache, um die Straftaten zu beschreiben. Die waren schlimm und werden mit aller Konsequenz verfolgt.
Was ist schiefgelaufen in den vergangenen 28 Jahren?
KRETSCHMER Nie ging es uns in den neuen Ländern und eben auch im Freistaat Sachsen so gut, nie war unsere Lebenserwartung so hoch, und nie stand uns die Welt so offen wie heute. Die Diskussion hat aber eine Schlagseite ins Negative bekommen. Das müssen wir wieder geraderücken. Wir müssen die Freude zurückgewinnen.
Wie?
KRETSCHMER Die Deutsche Einheit ist die größte patriotische Leistung des Landes. Im Westen haben Menschen auf Wohlstandszuwachs verzichtet, in Ostdeutschland hat sich der überwiegende Teil der Bevölkerung ein neues Leben aufgebaut. Das muss an einem solchen Tag gewürdigt werden. Miesepetern sage ich: Es ist das beste Deutschland, das wir je hatten.
Die schwarz-rote Bundesregierung hat im Moment keinen Rückenwind, oder?
KRETSCHMER Was sich auf Bundesebene momentan abspielt, möchte ich in Dresden nicht haben. Wir gehen kollegial miteinander um. Zuerst das Land, dann die Partei und dann die Person. Koalitionen scheitern nicht an Sachfragen, Koalitionen scheitern an persönlichen Befindlichkeiten.
CSU-Chef Horst Seehofer hat die Migrationsfrage als Mutter aller politischen Probleme bezeichnet.
Gehört das in die Kategorie persönlicher Befindlichkeiten?
KRETSCHMER Es hat alte Wunden wieder aufgerissen. Vor dem Sommer hatte sich die Diskussion um die Flüchtlingspolitik weitgehend beruhigt. Dann ist der Konflikt wieder aufgebrochen. Die Menschen wollen, dass eine Regierung han- delt. Stattdessen sehen wir wieder nur den Streit.
Was muss passieren?
KRETSCHMER Wenn die Diagnose falsch ist, funktioniert auch keine Behandlung. Das Jahr 2015 mit der Einwanderung von fast einer Million Flüchtlingen haben wir noch nicht verarbeitet. Es fehlt ein parteiübergreifender Konsens bei vier zentralen Punkten: Sicherung der EU-Außengrenze, Integration anerkannter Asylbewerber, Abschiebung abgelehnter Asylbewerber und ein wirkungsvollerer Umgang gegen Intensivstraftäter. Wenn wir uns das als Politiker über Parteigrenzen hinweg gemeinsam vornähmen, wäre viel gewonnen.
Haben die Volksparteien noch eine Zukunft?
KRETSCHMER Ja, wenn sie jetzt den Vorwärtsgang einlegen. Die Themen liegen auf dem Tisch. Wir müssen die Mitte der Gesellschaft stärken. Es gibt immer Leute, die die Gesellschaft spalten wollen. Das ist keine Kunst. Das wirkungsvollste Mittel gegen Populismus und seine unanständigen, falschen Behauptungen sind Antworten auf Probleme, handlungsfähige Regierungen, eine Stärkung der inneren Sicherheit und des ländlichen Raumes. Und ein respektvoller Umgang. Ohne Zorn. Ich habe noch nie jemanden als Mob oder Pack bezeichnet, denn danach brauche ich mit den Leuten nicht mehr zu sprechen.
Ihr Fraktionschef Christian Hartmann schließt eine Koalition mit der AfD nicht aus. Sie sind Ministerpräsident. Wie geht das aus?
KRETSCHMER Die AfD hat mich als Volksverräter bezeichnet. Volksverräter wurden von den Nazis in Plötzensee ermordet. Wir erleben im Bundestag und im sächsischen Landtag abstoßende Debatten. Es gibt keine Grundlage der Zusammenarbeit. Ich schließe eine Koalition mit der AfD wie mit der Linkspartei aus. Und ich werde jeden Tag darin bestätigt, dass das der richtige Weg ist. Wir müssen auch Mög- lichkeiten finden, um von der AfD geleitete Fehlinformationen im Internet zu korrigieren. Dort wimmelt es anVerschwörungstheorien, Demagogie und Falschnachrichten. Ich bin entsetzt. Das verändert die Menschen. Bei uns wird die Polizei gezielt Leute einsetzen, um in ihrem Bereich gegenzuhalten.
Die Union im Bundestag hat ihren Vorsitzenden gestürzt, und die sächsische Fraktion hat gegen Ihren Vorschlag Hartmann gewählt. Rebellionsanzeichen?
KRETSCHMER Der bisherige Fraktionschef und ich haben einen Vorschlag unterbreitet. Man kann nicht immer Demokratie und Alternativen einfordern und sich dann beschweren, wenn ein anderer Kandidat gewählt wird. Sowohl in Berlin als auch in Dresden waren die Kampfkandidaturen anständig. Es ist keine dreckige Wäsche gewaschen worden. Das ist ein Zeichen für eine lebendige Partei und Demokratie.