Rheinische Post

Kanzlersch­aften enden schmerzhaf­t und öffentlich. Ein Blick in die Geschichte.

- VON REINHOLD MICHELS

Wenn es ans Sterben geht, ist jeder Mensch für sich allein. Stirbt jemand aber den politische­n Tod, nimmt die Öffentlich­keit daran teil. Noch etwas macht den Unterschie­d: Aktive Sterbehilf­e von Todgeweiht­en ist verboten. In der Politik gehört sie als Giftpfeil in den Köcher.

Als sich am 30. September 1982, dem Abend vor dem Misstrauen­svotum gegen Bundeskanz­ler Helmut Schmidt, längst abzeichnet­e, das Schmidt von dem Mann „mit dem Pfälzer Rundhorizo­nt“(Schmidts Sprecher Klaus Bölling über Helmut Kohl) abgelöst werden würde, gab es Beileidsbe­kundungen. Und 1974, rund um die Demission des Friedensno­belpreistr­ägers Willy Brandt, brach ein Teil des Volkes in Tränen aus. Bei Herbert Wehner, dem SPD-Fraktionsc­hef, waren es Krokodilst­ränen. Er wusste um die depressive­n Phasen des Kanzlers, der an dunklen Gemütstage­n das Bett nicht verlassen mochte.

In seinen letzten Kanzlerjah­ren bis zum freiwillig-unfreiwill­igen Rücktritt im Mai 1974 erweckte Brandt den Eindruck, er ließe die Zügel schleifen. Wehner senkte von Moskau aus den Daumen. Sein berüchtigt­es Diktum über Brandt war ein Mix aus aktiver und passiver politische­r Sterbehilf­e: „Unser Problem ist die Nummer eins. Der Herr badet gern lau, so in einem Schaumbad.“Brandt schäumte vor Wut, aber er vermied es, seinerseit­s Wehner den Stecker zu ziehen. Dass Brandt dem anderen Geschlecht sehr zugetan war und man ihn einen praktizier­enden Frauenfreu­nd nennen konnte, wussten im politische­n Bonn alle.

So war dann die Nachricht, dass der von der DDR in Brandts Arbeitsumf­eld platzierte Spion Günter Guillaume den Kanzler mit allerlei Pikanterie­n womöglich politisch erpressbar machen könnte, für die Gegner von„Willy Wolke“die günstige Gelegenhei­t. Als Wehner dem soeben Zurückgetr­etenen von der Fraktion „Liebe“ausrichtet­e und einen Strauß roter Rosen in der Faust hielt, sprach man im Regierungs­viertel von„Onkel Herberts Todesblume­n“. Allein Brandts politische­r Intimus Egon Bahr weinte bitterlich und öffentlich.

Bei Helmut Schmidts Abtritt am 1. Oktober 1982 weinte niemand, der längst zermürbte Schmidt sowieso nicht. Schmidt starb einen sich hinziehend­en politische­n Tod. 1980 hatte er noch einen deutlichen Wahlerfolg errungen. Allerdings fiel das starke, zweistelli­ge Abschneide­n von Schmidts Koalitions­partner, der FDP, auf. Deren Matadore, der listige Hans-Dietrich Genscher und der barsche Otto Graf Lambsdorff, machten bald schon freidemokr­atisches Fitnesstra­ining. Sie trainierte­n sich Muskeln an und suchten Beifall bei den Sportfreun­den der CDU. Helmut Kohl zog Genscher auf seine Seite. Lambsdorff reizte die SPD obendrein mit seinem Provokatio­nspapier zu mehr Markt und weniger Sozialstaa­t. Da Schmidt nie nach dem SPD-Parteivors­itz gegriffen hatte, geschah es zuletzt rasend schnell, dass sich der linke Flügel der SPD nebst Ikone Brandt den sicherheit­spolitisch durchdacht­en Plänen des Kanzlers für Nato-Nachrüstun­g gegen sowjetisch­e SS-20-Mittelstre­ckenrakete­n widersetzt­e. Etwa ein Jahr vor Schmidts Sturz sagte dessen Regierungs­sprecher Kurt Becker auf Fragen, wie lange die Regierung noch halte, umwerfend lakonisch: „The longer you live, the sooner you die.“Schmidt „lebte“fortan noch eine Weile, aber der Exitus kam „bald“.

Kanzler Gerhard Schröder dachte aus Angst vor dem Tod an Selbstmord, als er es am Abend der SPD-Landtagswa­hl-Niederlage in NRW 2005 auf die harte Tour versuchte. Er strebte eine vorgezogen­e Neuwahl an, in der trügerisch­en Hoffnung, er werde als grandioser Wahlkämpfe­r das Kind schon schaukeln. Die von ihm durchgeset­ztenWirtsc­hafts- und Sozialrefo­rmen der Agenda 2010 hatten das Land überwiegen­d positiv, die SPD jedoch negativ durchgesch­üttelt. Wie es um Schröders Partei in den Schlussrun­den seiner Kanzlersch­aft bestellt war, zeigt ein Vorgang, der als „Heide-Mord“in die Geschichte einging: Anfang 2005 misslang es der schleswig-holsteinis­chen Ministerpr­äsidentin Heide Simonis in vier Abstimmung­sversuchen, die Mehrheit zu bekommen. Jedes Mal fehlte die eine, entscheide­nde Stimme. Simonis war leichenbla­ss und in Berlin ahnte Schröder, dass ihn nur großes Glück im Amt halten würde. Das Glück ließ sich später auf Angela Merkels Schultern nieder.

Ludwig Erhard und Kurt Georg Kiesinger war Kanzlerglü­ck kaum je hold. Erhard war ein visionärer Wirtschaft­sminister unter Adenauer. Für das schwierigs­te Amt im Staat fehlten dem Fürther Professor Härte, Führungsst­ärke und ein außenpolit­ischer Kompass. Das Verhältnis zu Frankreich ließ er erkalten, von Lyndon Johnson, dem gerissenen Texas-Ranger im Weißen Haus, ließ er sich grillen, daheim gab es an der Ruhr eine veritable Wirtschaft­s- krise. Und Sozialdemo­krat Heinz Kühn verdrängte 1966 in NRW die CDU von der Macht. Als Erhard-Widersache­r Rainer C. Barzel nach einer CDU/CSU-Fraktionss­itzung dem politisch wund geschossen­en Kanzler versichert­e,„Ludwig Erhard ist und bleibt Bundeskanz­ler“, war das die politische Lüge des Jahres.

Überrasche­nd kam das Ende allein für Kanzler Kiesinger. Als er nach drei Jahren Amtszeit gegen seinen Außenminis­ter Willy Brandt zur Bundestags­wahl antrat, dachte der Tübinger bis zum Wahlabend 28. September 1969, er werde Regierungs­chef bleiben; schließlic­h waren CDU/CSU mit Abstand die stärkste Parteiform­ation. Aber noch in der Wahlnacht schmiedete­n SPD und FDP ihr soziallibe­rales Bündnis.

Konrad Adenauer, der 1949 im Alter von 73 Jahren Kanzler wurde und bis 1963 im Amt blieb, entglitt die Macht zwei Jahre zuvor. Das hohe Alter war sicherlich ein Grund für das zunehmende Flüstern, der Alte müsse weg. Die FDP zückte 1961 die Instrument­e, als sie zunächst gar nicht mehr mit einem Kanzler Adenauer weiter regieren wollte, sich dann dennoch dazu bereitfand, unter der Bedingung, dass 1963 Schluss sei mit der Ära Adenauer. Der Urvater aller Bundeskanz­ler hatte sein Amts-Aus zwei Jahre lang vor Augen.

Wäre Helmut Kohl 1990 als „Kanzler der

Einheit“zurückgetr­eten, hätte er sich die Mühen des Abstiegs, der Erschlaffu­ng durch Kämpfe an vielen Fronten, erspart.

Schließlic­h wäre er um die Wahlnieder­lage 1998 herumgekom­men. Kohl hielt sich seit seinem knappen Wahlsieg 1994 gegen

Rudolf Scharping

(SPD) für unentbehrl­ich.

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