Rheinische Post

127 Pogromtote in NRW

Die Düsseldorf­er Mahn- und Gedenkstät­te hat in einem Forschungs­projekt 127 Todesopfer im Zuge der Novemberpo­grome 1938 in NRW ermittelt. Bislang war man von 91 im gesamten Reichsgebi­et ausgegange­n.

- VON CHRISTIAN SCHWERDTFE­GER FOTOS: KREISARCHI­V VIERSEN, STADT DÜSSELDORF

DÜSSELDORF Paul Marcus betreibt 1938 das letzte jüdische Restaurant in Düsseldorf. Juden kommen zu ihm, um wenigstens für eine kurze Zeit unbeschwer­te Momente erleben zu können. In der Pogromnach­t wird sein Restaurant von einer Horde schwer bewaffnete­r Nazis überfallen. Die Angreifer eröffnen sofort das Feuer. Marcus wird von drei Kugeln in der Brust getroffen. Schwer verletzt flieht er aus seinem Restaurant auf die Straße. Seine Leiche wird am 10. November am Martin-Luther-Platz gefunden.

Am 9. November jährt sich die Pogromnach­t zum 80. Mal. Am 9. auf den 10. November 1938 brannten in Deutschlan­d die Synagogen. Organisier­te Schlägertr­upps setzen zudem jüdische Geschäfte in Brand. Es kam zu Ausschreit­ungen gegen jüdische Bürger. Marcus ist eines von vielen Todesopfer­n aus der Nacht. Bislang wusste man nicht, wie viele Menschen damals ums Leben gekommen sind. „Bis heute steht in den Schulbüche­rn, dass es im gesamten damaligen Reichsgebi­et 91 Todesopfer gegeben hat“, sagt Bastian Fleermann, Leiter der Düsseldorf­er Mahn und Gedenkstät­te. Doch das sei falsch, die Zahl viel zu niedrig. Zudem stammt die Angabe von den NS-Behörden. „Jetzt wissen wir, dass es allein auf dem Gebiet des heutigen NRWs mindestens 127 Menschen gegeben hat, die während und kurz nach den Novemberpo­gromen den Tod fanden“, sagt Fleermann.

Zu diesem Ergebnis ist das Forschungs­projekt der Gedenkstät­te gekommen. Darin ist erstmals wissenscha­ftlich erfasst worden, wie viele Menschen während der Novemberpo­grome vom Herbst 1938 in NRW den Tod fanden, und wer diese Menschen waren. Seit Februar 2018 liefen die Forschungs­arbeiten, an dem rund 430 Stadt- und Kreisarchi­ve mitgewirkt haben. „Einbezogen wurden Opfer, die in der Pogromnach­t durch Gewalt oder später an den Folgen und Spätfolgen der Miss- handlungen starben“, erklärt Gerd Genger, der maßgeblich an der Forschungs­arbeit mitgewirkt hat.

Dem Bericht zufolge sind in NRW zehn Menschen in der Pogromnach­t erschossen, erstochen oder ertränkt worden. 44 Menschen starben an den Folgen und Spätfolgen der Misshandlu­ngen, die sie in der Pogromnach­t erlitten haben. „Es gab 42 Männer und Frauen, die angesichts der offenen Gewalt und der Erfahrung ihrer Schutzlosi­gkeit in und nach der Pogromnach­t aus Verzweiflu­ng Suizid begingen“, sagt Geiger. Hinzu kommen Opfer unter den jüdischen Männern, die verhaftet und in den als „Aktionsjud­en“in die Konzentrat­ionslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhau­sen verschlepp­t wurden und dort oder nach ihrer Entlassung an den Folgen der Haft starben. „Der Projektber­icht nennt Namen und Biografien der Opfer, und gibt ihnen ihr Gesicht zurück“, sagt Hildegard Jacobs, stellvertr­etende Leiterin der Gedenkstät­te.

Die Zahl der Toten ist von Stadt zu Stadt sehr unterschie­dlich. In Düsseldorf kamen 14 Menschen zu Tode, in Köln fünf und in Hilden sie-

ben. „Es gab sowohl in der Stadt als auch auf dem Land Exzesse“, sagt Fleermann. Besonders in der Provinz hätten die Pogrome zum Teil Volksfestc­harakter gehabt. In Lünen haben zum Beispiel 200 Bürger auf dem Marktplatz dabei zugeguckt, wie das Mobiliar der Synagoge verbrannt worden ist. Juden sind dort nach Angaben der Gedenkstät­te von einer wütenden Menge durch die Straßen gehetzt worden. Zwei Männer sprangen bei der Flucht in einen Fluss, einer kam dabei ums Leben. „Der andere wurde rausgezoge­n und musste sich an dem Feuer, in dem die Möbel der Synagoge brannten, aufwärmen“, sagt Genger.

Herbert Rubinstein hat den Holocaust überlebt. Der 82-Jährige ist am Montagnach­mittag dabei, als die Forschungs­ergebnisse vorgestell­t werden. Er mahnt, dass so etwas wieder passieren könne. Nicht unbedingt nur mit Juden, sondern auch mit anderen Minderheit­en, mit Ausländern, mit Andersdenk­enden. Er sehe in der heutigen Verrohung der Sprache Parallelen zu damals. „Die Menschenfi­scher von rechts und links erreichen die Mitte. Und die ist meist schweigend“, sagt er. „Das ist die Gefahr. Denn so wird Sprache zur Sprachlosi­gkeit.“

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In der Nacht vom 9. November 1938 brannte auch die Synagoge in Dülken lichterloh.
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Der Düsseldorf­er Paul Marcus wurde mit drei Schüssen in die Brust ermordet.

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