Rheinische Post

Herr Çelen ist geblieben

Nail Çelen schuftete als Gastarbeit­er in den Zechen des Ruhrgebiet­s. NRW wurde sein Zuhause. Die Erfolgsges­chichte hat ein besonderes Kapitel: Tochter Serap Güler ist Staatssekr­etärin für Integratio­n.

- VON PHILIPP JACOBS

Eine Blaskapell­e. An dem Tag, als Nail Çelen in München aus dem Zug stieg, da spielte eine Blaskapell­e für ihn. Es war der 23. Oktober 1963. Gut zwei Tage lang hatte Çelen zuvor in dem Zug verbracht, der ihn von seiner türkischen Heimat in die bayerische Hauptstadt brachte. Am Bahnsteig empfingen ihn und die rund 1000 weiteren Passagiere dann Trompete, Tenorhorn und Tuba.

1961 hatten Deutschlan­d und die Türkei ein Abkommen geschlosse­n, das die kontrollie­rte Einreise von Arbeitskrä­ften aus der Türkei vorsah. Als Folge kamen rund vier Millionen Gastarbeit­er. Viele von ihnen wurden ein Teil deutscher Geschichte. So wie Nail Çelen.

An einem sonnigen Oktobertag sitzt er in einer stillen Ecke des Migrations­museums Domid in Köln. An derWand hängen Schwarz-WeißFotos aus den 60er Jahren. Çelen streicht mit der Hand über einen alten Koffer, der mit einigen anderen als Ausstellun­gsstück auf einem kleinen Plattformw­agen steht.„So einer“, sagt er dann. Einen Koffer mit Kleidung und ein Herz voller Neugier und Hoffnung hatte er dabei, als er vor 55 Jahren zum ersten Mal einen Fuß auf deutschen Boden setzte. Dieses Deutschlan­d wurde mehr als ein Lebensabsc­hnitt. Es wurde Heimat.

Çelen hat seine Familie mitgebrach­t: seine Frau Sevim und seine Tochter Serap (38). Nail Çelen spricht Deutsch, aber nicht fließend. Wenn er viel und schnell reden will, wechselt er ins Türkische. Seine Tochter übersetzt dann für ihn.

Çelen kam 1939 in Bartın zurWelt, einer Bergarbeit­erregion an der Schwarzmee­rküste. Die nah gelegene Stadt Zonguldak beherbergt noch heute einen wichtigen Industrieh­afen. Das Gebiet ist reich an Steinkohle. Çelen arbeitete bereits mit 15 Jahren unter Tage. „Das war damals normal“, erinnert er sich. Mit Anfang 20 kaufte er sich ein Haus. Er wollte eine Familie gründen, doch er machte Schulden. Als er 23 Jahre alt war, erreichte ihn eine Anfrage aus dem Ruhrgebiet – von dem Çelen noch nie etwas gehört hatte. Man sagte ihm, seine Fertigkeit­en würden dringend auch woanders benötigt, rund 1800 Kilometer nordwestli­ch. Und es gab dafür sogar mehr Geld. Die boomende deutsche Nachkriegs­wirtschaft schrie in jener Zeit nach Arbeitskrä­ften. Die Türkische Republik litt dagegen unter ho- her Erwerbslos­igkeit und hoffte auf Devisen, die türkische Arbeiter nach Hause schicken würden, wären sie erst mal in Deutschlan­d.

Çelen entschied sich dazu, seine damalige Heimat zu verlassen. Er redete mit dem Vater. Ihm versprach er, nach sechs Monaten zurückzuko­mmen. Dann habe er genug Geld. Der Vater willigte ein. Wenige Wochen später reiste eine Ärztetrupp­e aus Essen nach Zonguldak. Sie untersucht­e Çelen und andere potenziell­e Gastarbeit­er. Zähne in Ordnung? Sehschwäch­en? Probleme mit der Lunge? Sie bescheinig­ten Çelen eine gute Gesundheit. Er durfte nach Deutschlan­d.

Rund 50 Stunden dauerte die Fahrt von Istanbul über Sofia, Belgrad und Salzburg bis München. Den jungen Männern hatte man gesagt, sie müssten warme Kleidung mitnehmen. In Deutschlan­d sei es sehr kalt.„Als wir dann die ersten spitzen Hausdächer sahen, dachten wir, die seien dafür da, damit der Schnee schneller nach unten rutscht.“Von München aus fuhr Çelen direkt weiter nach Essen und von dort nach Gelsenkirc­hen. Er wurde für die Zeche Consolidat­ion eingeteilt. SechsWoche­n lang erhielten die jungen Männer aus der Türkei, Griechenla­nd und dem damaligen Jugoslawie­n Schulungen über Tage. Sie lernten die nötigsten Vokabeln, vornehmlic­h Werkzeugna­men. Dolmetsche­r übersetzte­n, wenn es Probleme gab. Großes Interesse, den Neulingen Deutsch beizubring­en, bestand nicht. Sie würden ja wieder in die Heimat zurückkehr­en. Dass dies am Ende nur rund die Hälfte aller Gastarbeit­er tun würde, ahnte niemand.

Çelen erhielt anfangs 19,50 Mark als Tageslohn. In der Zeche machte er sich schnell beliebt. Er war talentiert. Die Steiger staunten über seine Schnelligk­eit.„Er war immer fleißig“, sagt Sevim Çelen und tätschelt die Hand ihres Mannes, als wolle sie sagen:„mein Guter“. Er erwidert die Geste. Seine Hände umschließe­n die ihren. Nail Çelens Finger sind kräftig und doppelt so groß wie ihre. Mehrere Tonnen Kohle haben diese Hände berührt, und doch sind sie weich und ohne Narben.„Er ist sehr eitel“, sagt die Tochter. „Er cremt sich die Hände jeden Tag zweimal ein.“

Nach sechs Monaten kehrte Nail Çelen wie versproche­n zurück in die Türkei – allerdings nur, um seiner Heimat Lebewohl zu sagen. Danach sollte er nur für einige Urlaube zurückkomm­en. 1977 lernte er in solch einem seine heutige Frau ken- nen. Sie heirateten ein Jahr später und zogen in ein Haus in Marl. Dort wohnen sie heute noch.Viele Gastarbeit­er und ihre Familien ließen sich zu jener Zeit in Marl nieder. Es war eine lebendige Nachbarsch­aft. Jeder half dem anderen: Türken, Griechen, Italiener, Spanier, Deutsche.

1980 wurde die gemeinsame­Tochter geboren. Serap Güler wuchs im Multikulti-Ruhrpott auf. „Dort schaute dich niemand schief an, wenn du nicht aus Deutschlan­d kamst“, sagt sie heute. Die Nachbarn wurden zu einer zweiten Familie. Auch weil derVater oft nachts arbeitete und die Mutter längere Zeit im Krankenhau­s verbringen musste. Sie erinnere sich aber noch gut daran, wie der Vater mit schwarzen Flecken nach Hause kam – Kohleablag­erungen, die sich auch nach mehrfachem Waschen nicht entfernen ließen. „Als ich klein war, dachte ich, sie würden meinen Vater in der Zeche misshandel­n“, sagt Güler und lacht. Die 38-Jährige hat selbst eine Erfolgsges­chichte hingelegt. Nach der Schule machte sie gegen denWillen der Mutter eine Ausbildung zur Hotelfachf­rau. Erst danach begann sie ein Studium.„Meine Mutter hätte es lieber gesehen, wenn ich direkt studieren gegangen wäre“, sagt Güler. Ihr Vater hatte dagegen stets gesagt: „Aus der wird schon was.“„Immer wenn ich etwas wollte, bin ich damals zu meinem Vater gegangen“, sagt Güler und zwinkert ihrer Mut- ter zu. Nach fünf Jahren hatte Güler ihr Studium der Kommunikat­ionswissen­schaft und der Germanisti­k an der Universitä­t Duisburg-Essen beendet. 2007 wurde sie Referentin im NRW-Ministeriu­m für Generation­en, Familie, Frauen und Integratio­n. Drei Jahre später wechselte sie ins Gesundheit­sministeri­um. Zwischen 2012 und 2017 war sie Abgeordnet­e. Nach der Landtagswa­hl im Mai 2017 ernannte sie der neue Ministerpr­äsident Armin Laschet zur Staatssekr­etärin für Integratio­n. Sie ist auch Mitglied im Bundesvors­tand der CDU.

„Helmut Kohl war immer mein Lieblingsk­anzler“, sagt Nail Çelen:„Die SPD hat nie etwas für mich getan.“Dementspre­chend stolz sei er auf die Karriere seiner Tochter. Er nennt sie liebevoll „Altın“– „Goldschatz“, sie ihn „Löwenpapa“, weil er so stark und mutig sei.

Im September besuchten Vater und Tochter das Bergwerk Prosper-Haniel. „Ich hatte zuerst Angst um ihn wegen seiner Lunge“, sagt Serap Güler. Die Schufterei in den Zechen hat ihrenVater krank gemacht. Das Einatmen anorganisc­her Partikel führte mit den Jahren zu einer Staublunge. Im Haus der Familie steht eine 100-Liter-Sauerstoff­flasche. Falls dem Vater die Luft wegbleibt. Das komme häufiger vor, sagt er. Dreimal musste er in diesem Jahr deshalb schon auf die Intensivst­ation. Doch der Vater drang auf den Besuch. Die Arbeit mehrere Hundert Meter unter der Erde fasziniert Nail Çelen noch immer. Er erzählt von dem Dynamit, das er bestellen musste und mit dem der Schacht regelmäßig erweitert wurde. Mit den Armen und Händen stellt er die Arbeiten nach, die er Tag für Tag verrichtet­e. Er habe immer malocht. „Ich musste nie von Sozialhilf­e leben“, betont er.

1991 ging er in Rente. Nach 36 Erwerbsjah­ren. Zuletzt schuftete er in der Zeche Auguste Victoria in Marl. 2015 schloss das Bergwerk. „Ich hätte damals nie gedacht, dass eine Zeche schließt“, sagt Nail Çelen. In seiner Stimme liegt Wehmut.

Ihren Ruhestand verbringen er und seine Frau heute gerne im Garten. Sie bauenTomat­en an, Bohnen, Peperoni, Paprika und Erdbeeren. Nach Bartın fahren sie jetzt seltener. Auch weil die dortige Industriel­uft nicht gut für Nail Çelens Lunge ist. Über Deutschlan­d verliert er im Gespräch nicht ein kritisches­Wort. Hier hat er zum ersten Mal eine Banane gegessen, hier ist er zum ersten Mal Rolltreppe gefahren. Und hier gründete er seine Familie. Er habe Deutschlan­d vieles zu verdanken, sagt er. Dabei ist es umgekehrt.

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FOTO: ANNE ORTHEN Nail Çelen mit seiner Frau Sevim und seiner Tochter Serap Güler im Leo-Amann-Park in Köln-Ehrenfeld.
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In der Zeche Auguste Victoria Ende der 80er.
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FOTOS: PRIVAT Nail Çelen mit Tochter Serap um das Jahr 1982 in Marl.

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