Streit um Schweizer „Schnüffelgesetz“
Detektive sollen den betrügerischen Bezug von Sozialleistungen stoppen.
GENF Es geht um den Blick ins Schlafzimmer und um millionenschweren Betrug. Die Schweizer streiten über eine brisante Gesetzesänderung. Danach dürfen private Ermittler im Auftrag der Sozialversicherungen bestimmte Leistungsbezieher ausspionieren. Das Parlament stimmte bereits mit der Mehrheit der bürgerlichen Parteien dafür. Doch die Empörung über das sogenannte Schnüffelgesetz schwoll bei vielen Bürgern so stark an, dass sie ein Referendum gegen die Vorlage erzwangen. Am Sonntag stimmen die Eidgenossen nun darüber ab, ob sie Observierungen mit versteckter Kamera akzeptieren.
Die Regierung und bürgerliche Politiker wollen mit den neuen Regeln missbräuchlichen Bezug von Sozialleistungen stoppen. Als besonders anfällig für Betrug erweisen sich die Unfall- und die Invalidenversicherung. So sorgte in diesen Tagen der Fall eines „47-jährgen Kosovaren“in helvetischen Medien für Schlagzeilen. Der Mann erfreute sich robuster Gesundheit, schwitzte im Fitnesscenter und arbeitete als Türsteher. Gleichzeitig kassierte er über Jahre Sozialleistungen in der stolzen Höhe von mehr als 400.000 Schweizer Franken (352.000 Euro), etwa aus der Invalidenkasse. „In den allermeisten Fällen kann mit Gesprächen und anhand von Unterlagen, zum Beispiel Arztberichten abgeklärt werden, ob jemand Anspruch auf Leistungen hat“, erklärt der zuständige Innenminister Alain Berset. „Es gibt aber Fälle, in denen das nicht geht.“Dann dürfen die Versicherungen die Detektive einschalten, um Sozialbetrüger zu ertappen.
Der Einsatz der „Sozialdetektive“gegen die schwarzen Schafe erfolge innerhalb klarer Grenzen, verspricht Innenminister Berset. Es müssen konkrete Anhaltspunkte vorliegen, das Ausspähen darf nicht länger als ein Jahr dauern, und der Betroffene muss später informiert werden. Dann kann der Observierte vor Gericht ziehen. Erlaubt sind Bild- und Tonaufnahmen. Nach der Erlaubnis durch ein Gericht können Detektive auch Ortungsgeräte wie GPS-Tracker am Auto einesVerdächtigen installieren.
Aufnahmen dürfen nur gemacht werden, wenn sich die Zielperson an frei zugänglichen Stellen befindet, etwa in einem Geschäft oder auf einer Straße. Sozialdetektive sind auch befugt, auf den Auslöser zu drücken, wenn sich die Person an einem Ort befindet, der von einer frei zugänglichen Stelle aus einsehbar ist – beispielsweise einem Balkon. Das Innere einer Wohnung oder eines Wohnhauses, so versichert Innenminister Berset, dürfen die Detektive nicht überwachen.
Doch die Gesetzes-Gegner trauen den Beteuerungen des Ministers nicht. Denn viele Wohnungen sind vom Bürgersteig aus frei einsehbar. „Jeder kann überwacht werden, auch in unseren eigenen vier Wänden“, warnen die Neinsager, die ein Referendumskomitee gegründet haben.„Versicherungen können Überwachungen nach Gutdünken einleiten, ohne dass sie dabei kontrolliert werden“, kritisieren die Gegner des Vorstoßes. Dabei würden immer neue technische Mittel verwendet – darunter auch Drohnen.
Als treibende Kräfte in dem Komitee profilierten sich Privatpersonen: die Schriftstellerin Sibylle Berg, der Anwalt Philip Stolkin, der Kommunikationsberater Daniel Graf und der Student Dimitri Rougy. Auch die Grünen und die Sozialdemokraten (SP) wollen den „Überwachungsstaat“verhindern. Die SP-Abgeordnete Prisca Birrer-Heimo ist sich sicher: „Die Versicherten, also wir alle, werden schlechtergestellt als Kriminelle und sogar Terroristen.“
„Sozialdetektive“dürften die Zielpersonen auch auf deren Balkonen fotografieren – das Innere der Wohnung wäre aber tabu