Lieber nur für sich
Netflix bringt mit „Roma“den vielleicht besten Film des Jahres in die Kinos – aber nur für eine Woche.
DÜSSELDORF Mit dem Wort sollte man vorsichtig umgehen. Aber für diesen Film kann es keine andere Bezeichnung geben: Alfonso Cuaróns „Roma“ist ein Meisterwerk. Ein großer Glücksmoment des Kinos. Ein Film, der mit seinem ruhigen erzählerischen Atem und der konzentrierten Visualität den ganzen Saal einnimmt. Kein rauschhaftes 3D-Kino-Erlebnis, sondern ein Werk, das auf sanfte, eindringliche Weise tief berührt. Im Zentrum des Geschehens steht nicht eine schwarzlederne Superhelden-Gestalt, sondern eine indigene junge Frau, die in Mexiko-Stadt der 1970er Jahre als Haushälterin für eine Mittelschichtsfamilie arbeitet. „Roma“ist Cuaróns cineastische Liebeserklärung an das Kindermädchen, das ihn großgezogen hat.
Zurecht wurde das Werk beim Filmfestival inVenedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet. Trotzdem wird der Film in Deutschland nur eineWoche lang in 31 Kinos und zumeist nur in wenigen Einzelvorstellungen zu sehen sein. Denn „Roma“ist nicht nur ein Meisterwerk, sondern auch eine Netflix-Produktion. Der Streaming-Dienst und das Kino stehen seit jeher auf Kriegsfuß miteinander. Online-Portale wie Netflix und Amazon Prime haben in den letzten Jahren das Konsumverhalten der Zuschauer radikal verändert. Sie machen Film zu einer Massenware, die rund um die Uhr mit wenigen Mausklicks bequem verfügbar ist. Darunter leiden am meisten die Kinobetreiber, die mit eklatanten Besuchereinbrüchen zu kämpfen haben.
Zwischen den Fronten dieses Filmkulturkampfes scheint nun mit „Roma“der vielleicht beste Film dieses Jahres zerrieben zu werden. Ein Großteil der deutschen Kinobetreiber boykottiert nämlich die Aufführung, weil Netflix nur ein Auswertungsfenster von einer Woche anbietet, bevor„Roma“freigeschaltet und damit etwa 130 Millionen Abonnenten in mehr als 130 Ländern zugänglich gemacht wird. Dabei kommt sich die Konzernleitung im kalifornischen Los Gatos noch ungeheuer großzügig vor. Denn normalerweise werden Netflix-Filme den Kinos nur zeitgleich mit dem Online-Start angeboten. In diesem Fall rückt man von der strikten Firmenpolitik aus einem leicht durchschaubaren, strategischem Kalkül ab. Ein Film wie „Roma“hätte bei den Oscar-Verleihungen im nächsten Jahr große Chancen, wofür ein Kinostart allerdings unabdingbar ist. Ein Academy Award wäre für den Online-Anbieter ein ungeheurer Prestige-Gewinn, mit dem man die Zahl der Abonnements weiter zu steigern hofft.
Der Konkurrent Amazon hat es im vergangenen Jahr vorgemacht und konnte für seine Produktion „Manchester By The Sea“gleich zwei Oscars mit nach Hause nehmen. Aber Amazon betreibt eben auch eine deutlich weniger konfrontative Politik und respektiert das übliche Auswertungsfenster für Kinobetreiber von 120 Tagen in Deutschland beziehungsweise 90 Tagen in den USA. Warum „Netflix“für seine ambitionierteren Arthaus-Produktionen nicht eine ähnliche Strategie der friedlichen Koexistenz fährt, ist wohl der unternehmerischen Arroganz eines Großkonzerns geschuldet, der zwar den PR-Faktor einer Oscar-Verleihung mitnehmen will, aber am Kino als filmkulturellen Ort der Begegnung keinerlei Interesse hat.
Diese Politik führt nun zu einem absurden Ergebnis. Selbst in den USA startet der Film nur in wenigen Kinos. In Frankreich wird „Roma“gar nicht und in Cuaróns Heimatland Mexiko, für das der Film ins Oscar-Rennen gehen soll, gerade einmal in drei Städten auf der Leinwand zu sehen sein. Aus cineastischer Sicht ist das eine Tragödie. Denn es gibt in diesem Jahr wohl kaum einen Film, der jene ungeteilte Aufmerksamkeit, wie sie sich eben nur im Kinosaal herstellen lässt, mehr verdient hätte. Cuarón hat seinen Film im 65-mm-Format und hochauflösendem SchwarzWeiß gedreht, das genauso wie der perfekte Sound eine fast haptische Räumlichkeit entwickelt. Cuarón stellt sein beträchtliches handwerkliches Können ganz in den Dienst der intimen Nähe, die er zu seiner Hauptfigur herstellen will. Mit vollkommener künstlerischer Konsequenz bleibt er der Perspektive der Hausangestellten Cleo treu, die von der Familie ebenso ausgebeutet wie geliebt wird, und lässt gleichzeitig die gesellschaftlichen Umbrüche im Mexiko der 1970er einfließen. Die stille, magische Kraft dieses Films wird sich auch mit dem besten Heimkino-Equipment nie vollständig vermitteln.
Aber diese Kraft – und das darf man in der Diskussion um die Netflix-Bösewichte nicht vergessen – ist auch das direkte Ergebnis einer künstlerischen Freiheit, die die Produzenten ihrem Regisseur gewährt haben. Man darf stark bezweifeln, dass der Film in dieser Form im herkömmlichen Finanzierungssystem möglich gewesen wäre. Die Hollywood-Studios konzentrieren sich nur noch auf große Blockbuster und hätten einen solchen Film nie produziert. Aber auch Independent-Produktionen, die sich ihr Budget bei verschiedenen Geldgebern mit eigenen Erwartungshaltungen zusammensuchen, müssen immer mehr künstlerische Kompromisse eingehen. Davon ist in „Roma“nichts zu sehen. Die unverfälschte Autorenhandschrift und künstlerische Kohärenz sind hier in jeder Filmminute spürbar. Es wäre durchaus zu begrüßen, wenn Netflix mit seinen umfangreichen Abo-Einnahmen in Zukunft als Mäzen des Arthaus-Filmes auftritt.
Dazu gehört dann aber auch zwingend eine entsprechende Generösität gegenüber den Kinobetreibern, die dafür sorgen, dass große Filmkunst auch auf die große Leinwand kommt.