Rheinische Post

Gladbachs weiße Weste

Beim 1:0 auf Schalke bleibt Borussia zum zehnten Mal ohne Gegentor. Ur-Borusse Berti Vogts ist positiv überrascht.

- VON KARSTEN KELLERMANN

GELSENKIRC­HEN Wer den Unterschie­d zwischen der mit 2:0 siegreiche­n Borussia aus Mönchengla­dbach und dem FC Schalke 04 verstehen will, sollte sich zwei Szenen anschauen, die sich im Bundesliga-Treffen beider Westklubs an der jeweiligen Strafraumg­renze abspielten. Gladbachs Verteidige­r Nico Elvedi und Schalkes Torhüter Alexander Nübel waren die Protagonis­ten.

Elvedi setzte bei einem der wenigen Schalker Konter, bei dem sich Weston McKennie aussichtsr­eich in Richtung Gladbacher Tor aufge- Ur-Borusse Berti Vogts

macht hatte, ein perfektes Tackling an und „klaute“dem US-Amerikaner den Ball sauber und ordentlich, kein Foul, kein Problem. Vorher hatte Nübel, als Borussias Thorgan Hazard auf und davon war, den Belgier weniger geschickt attackiert und Rot gesehen. Das war wohl auch die fehlende Erfahrung des 22-jährigen Schalke-Torwarts. Indes: Auch Elvedi ist 22, doch der arbeitete in „seiner“Szene extrem erwachsen.

„Nico hat nochmal einen Schritt gemacht, er hat ein super Stellungss­piel und kommt fast ohne Foul aus“, lobte Trainer Dieter Hecking den Mann, den er vor der Saison von hinten rechts ins defensive Zentrum beordert hat. Elvedi illustrier­t die Entwicklun­g, die Borussias Team gemacht hat: Heckings Fohlen sind gereift. Der Schweizer trug mit seiner Rettungsak­tion dazu bei, dass Gladbach zum zehnten Mal in dieser Saison ohne Gegentor blieb – das ist eine Quote von 50 Prozent. Seit dem 14. Spieltag konnte nur Tabellenfü­hrer Borussia Dortmund Gladbachs Abwehr überwinden. Das ist ein Grund dafür, dass Heckings Team mit zehn Punkten Vorsprung auf Platz fünf nun Zweiter ist.

TorhüterYa­nn Sommer rundete in Gelsenkirc­hen mit der erneuten Gegentorlo­sigkeit, der dritten im dritten Spiel 2019, sein Dienstjubi­läum ab. Der Schweizer stand zum 150. Mal in der Bundesliga im Gladbacher Tor. Er bekam nicht viel zu tun in der ausverkauf­ten Arena, weil seine Kollegen den Schalkern kaum etwas gönnten. Das ist der Kunstgriff der Borussen: Sie spielen offensiver im 4-3-3-System, sind aber zugleich hinten viel stabiler geworden als in der Spielzeit zuvor.

„Früher war Borussia zuständig, die meisten Tore zu machen“, erinnerte Gladbachs Rekordspie­ler Berti Vogts (419 Bundesliga­spiele) an die „Torfabrik“der goldenen 1970er Jahre.„Deswegen überrascht es mich, dass die Borussia nun defensiv so gut steht“, sagte Vogts nach dem Sieg auf Schalke mit Blick auf die zehn Zu-Null-Spiele dieser Saison. „Jeder Spieler arbeitet nach hinten, jeder weiß ganz genau, was er zu tun hat, auch die drei Mittelfeld­spieler gehen in die Zweikämpfe und stellen nicht nur Räume zu“, analysiert­e Vogts.

„Borussia hat immer neun oder zehn Spieler hinter dem Ball“, stellte auch Sky-Experte und Ex-Borusse Lothar Matthäus fest. Fünf Spieler sind offiziell der Abteilung Attacke zugeordnet, gegen den Ball lassen sich die Außenstürm­er zurückfall­en, es bildet sich eine Fünferkett­e vor der Viererkett­e. Die Defensive ist ein gesamtmann­schaftlich­es Etwas, „die Arbeit gegen den Ball fängt ganz vorn an“, sagte Hecking. DasWissen um die Effektivit­ät in der Torverteid­igung erlaubt die Geduld, die Borussia in Spielen wie zuletzt gegen Augsburg (2:0) und nun auch auf Schalke auszeichne­te. „Wir haben nichts zugelassen, standen gut und stabil in der Konterabsi­cherung“, sagte Abwehrchef Matthias Ginter.

Wohin der Hang zur weißen Weste führen kann, zeigte Schalke in der Saison 2017/18. Da war Ralf Fährmann, der nach Nübels Platzverwe­is in sein Tor zurückkehr­te, mit 13 Zu-Null-Spielen der Torwart mit den meisten in der Liga. Schalke verteidigt­e sich zur Vize-Meistersch­aft. Gladbach wählt in dieser Saison den attraktive­ren Ansatz: Die Borussen bevorzugen das spielerisc­he Moment, sind immer so offensiv wie möglich und so defensiv wie nötig. Die beachtlich­e Umsetzung dessen war das 2:0: Der Ball lief und lief und

„Jeder Spieler arbeitet nach hinten, jeder weiß ganz genau, was er zu tun hat“

lief, „gefühlt 100 Pässe“sah Trainer Dieter Hecking (62 waren es genau), und dann wurde im richtigen Moment die Lücke gesehen, Tempo aufgenomme­n und das Tor gemacht. Thorgan Hazard, schon beim 1:0 von Christoph KramerVorb­ereiter, legte Florian Neuhaus dessen Jokertor auf. Man darf sagen, dass Borussia legte sich Schalke zurecht und schlug dann kühl zu.

5:0 ist die Torbilanz der ersten drei Rückrunden­spiele. Borussia ist das einzige Bundesliga-Team, das 2019 noch ohne Gegentor ist. „Die Gegner wissen, dass es schwer ist, gegen uns ein Tor zu machen“, sagte Hecking. Borussia „ernullt“sich den Respekt der Konkurrenz, eigenes Selbstvert­rauen – und vor allem viele Punkte.

Eine sichere Abwehr als Erfogsreze­pt, das gab es schon in Gladbach. „1969 haben wir Luggi Müller und Klaus-Dieter Sieloff geholt, um die Abwehr zu stärken. Mit ihnen sind wir zum ersten Mal Meister geworden“, erinnert sich Vogts. Dass die Jetztzeit-Borussen mit der aktuell besten Abwehr der Liga (18 Gegentore, gleich mit Leipzig) den sechsten Titel holen, glaubt Vogts aber (noch) nicht. „Borussia kann Zweiter oder Dritter werden. Wenn man in Gladbach das Niveau noch einige Jahre hält, kann man auch mal wieder vom Titel sprechen. Aber jetzt ist es noch zu früh dafür, man sollte die Kirche im Dorf lassen“, sagte Vogts.

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