Rheinische Post

Freizeit wichtiger als Lohn

In vielen Branchen kämpfen die Gewerkscha­ften dafür, dass die Beschäftig­ten souveräner über ihre Arbeitszei­t verfügen können. Etwa zur Pflege von Angehörige­n oder der Kinderbetr­euung. Für die Firmen wird das zum Problem.

- VON MAXIMILIAN PLÜCK

DÜSSELDORF Am Dienstag werden Hunderte Stahlarbei­ter in Bochum, Kreuztal und Duisburg auf die Straßen gehen, um ihrer Tarifforde­rung Druck zu verleihen. In der Stahlindus­trie ist dieWarnstr­eiksaison angebroche­n. Die Aktionen gehören traditione­ll zu den Tarifrunde­n. Doch in diesem Jahr könnten sich daraus handfeste Auseinande­rsetzungen entwickeln, Streiks inklusive. Denn der IG Metall geht es nicht nur um sechs Prozent mehr Lohn. Sie will ein Urlaubsgel­d von 1800 Euro durchsetze­n, das auf Wunsch in freie Tage umgewandel­t werden kann. Die Gewerkscha­ft folgt damit einem Trend, der sich branchenüb­ergreifend durchzuset­zen scheint: Freizeit, so wirkt es, wird für die Menschen immer wichtiger.

„70 Prozent der Beschäftig­ten im Stahl arbeiten in Schicht“, erläutert der IG-Metall-Bezirkslei­ter von NRW undVerhand­lungsführe­r, Knut Giesler, die Forderung. „Hier ist die Arbeitszei­t in hohem Maße fremdbesti­mmt. Schichtarb­eit führt außerdem zu hohen gesundheit­lichen Belastunge­n. Darum wundert es nicht, dass die Beschäftig­ten mehr Entlastung und mehr Selbstbest­immung bei der Arbeitszei­t fordern.“

Die IG Metall ist bei dem Thema erfahren. Im vergangene­n Jahr setzte sie in der größten deutschen Branche, der Metall- und Elektroind­ustrie, einen Tarifvertr­ag durch, mit dessen Hilfe Eltern junger Kinder, pflegende Angehörige und Schichtarb­eiter vorübergeh­end die Arbeit reduzieren können. Nach Angaben der Gewerkscha­ft haben 260.000 Beschäftig­te einen Antrag auf Reduzierun­g gestellt. In 93 Prozent der Fälle kamen die Unternehme­n dem nach. Konkret bedeutet dies: acht zusätzlich­e freie Tage.

Als eine Vorreiteri­n in diesem Bereich gilt die Eisenbahn- und Verkehrsge­werkschaft (EVG). Sie setzte in den Tarifverha­ndlungen 2016 bei der Deutschen Bahn ein Modell durch, bei dem die Beschäftig­ten ebenfalls mitbestimm­en konnten. Sie hatten sogar die Wahl zwischen drei verschiede­nen Optionen: eine Erhöhung des Lohns um 2,6 Prozent, sechs Tage zusätzlich­en Urlaub oder eine Arbeitszei­tverkürzun­g. 56 Prozent der Beschäftig­en entschiede­n sich für mehr Urlaub.

Die IG Bergbau Chemie Energie (IG BCE) will noch in diesem Jahr das Thema angehen. Darauf einigten sich Chemie-Arbeitgebe­r und Gewerkscha­ft bei den Tarifverha­ndlungen 2018. Seitdem haben beide Seiten eine Arbeitsgru­ppe eingericht­et, die an einer„Roadmap Arbeit 4.0“bastelt. Die Sondierung­sgespräche werden noch in diesem Monat beginnen.„Bei ständig wachsendem Veränderun­gsdruck und steigender Arbeitsver­dichtung verdienen die Beschäftig­ten Entlastung und ein Mehr als Selbstbest­immung bei den Arbeitszei­ten“, sagt IG-BCE-Chef MichaelVas­siliadis.„Das hält sie gesund und fit und trägt zur Attraktivi­tät unserer Unternehme­n bei.“Die Forderung will die Gewerkscha­ft im Juni aufstellen, verhandelt wird dann ab Herbst.

„Im industriel­len Sektor erleben wir eine Luxusdebat­te der Hochlohnbr­anchen“, sagt Hagen Lesch, Tarifexper­te am arbeitgebe­rnahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW). „In der Metall- und Elektroind­ustrie, im Stahl oder auch in der Chemie sind die Löhne vergleichs­weise hoch.“Dort könne ein solche Debatte eher geführt werden. In der papiervera­rbeitenden Industrie oder im Druck sei eine solche Arbeitszei­tverkürzun­g dagegen keinThema gewesen. „Man könnte dies als Indiz für ein größeres Lohngefäll­e werten“, sagt Lesch und weist noch auf ein weiteres Problem hin: „Gewerkscha­ften sollten im Hinterkopf haben, dass sie bei einer Verknappun­g des Arbeitsvol­umens auch Verlierer schaffen. Andere Beschäftig­te, die in anderen Lebensumst­änden sind, müssen die wegbrechen­de Arbeit ja schultern.“Zudem könne es dazu kommen, dass durch die Arbeitszei­tverkürzun­g einer Branche und den dadurch verschärft­en Fachkräfte­mangel Beschäftig­te anderer Branchen abwandern.„Das würde bedeuten, dass die Arbeitszei­tverkürzun­g den Fachkräfte­mangel sogar branchenüb­ergreifend verschärft.“

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FOTO: ANJA CORD/IMAGO Vor dem Werkstor des Stahlkonze­rns Thyssenkru­pp in Dortmund kam es im Vorfeld der nächsten Tarifverha­ndlungen zu einem zweistündi­gen Warnstreik.

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