Cambridge 5 – Zeit der Verräter
Roman Folge 64
Seit fünfundvierzig Jahren schien Jenny etwas darzustellen, was sie nicht war. Georgina kannte die richtige Jenny, das Mädchen aus konservativem Hause, das in Cambridge ankam und sich neu erfinden wollte (wie abgedroschen dieser Begriff mittlerweile war, „sich neu erfinden“, aber er passte zu Jenny). Tief im Inneren war Jenny immer dieses wohlerzogene Mädchen geblieben. Sie hatte davon geträumt, mit Hunt zusammenzuleben, mit ihm eine Familie zu gründen, es war der Traum von einem gemeinsamen Leben in einem kleinen Cottage gewesen, irgendwo auf dem Land gelegen, die Eingangstür von Rosen umrankt. Hier hätten Jennys und Hunts Schreibtische Seite an Seite gestanden, und hier hätten sie ihre großen Bücher geschrieben.
Natürlich wollte Jenny heute nicht mehr an diesen Traum erinnert werden, aber Georgina hatte ihn nicht vergessen. Die Tragik von Jennys Leben war, dass die Siebzigerjahre eine solche Idylle nicht zugelassen hatten. Es war eine Zeit gewesen, in der Intellektuelle, die etwas auf sich hielten, keine Familie gründeten, um sich hinter ihr zu verschanzen. Cyril Connolly hatte es damals auf den Punkt gebracht:„Es gibt keinen düstereren Feind der Kunst als den Kinderwagen im Flur.“Es war keine Zeit für Mädchen wie Jenny und Georgina gewesen. Georgina hatte das damals richtig erkannt. Sie wollte nicht erleben, was Jenny erlebte. Zu oft hatte sie ihre beste Freundin gesehen, tränenüberströmt, zum hundertsten Mal von Hunt gedemütigt. Er hatte nie mitgespielt in diesem Rosentraum. Acht Jahre lang hatte Jenny seine Untreue ausgehalten, hatte sogar sein Kind abgetrie- ben, weil er es so gewollt hatte, und am Ende war er doch gegangen. Alles, was die große Feministin Jenny getan hatte, war ein Akt der sinnlosen Unterwerfung gewesen.Wie ein Pawlow‘scher Hund hatte sie sich seitdem von einer ungesunden Beziehung zur nächsten gehangelt, bis ihre Krebserkrankung das nun alles endgültig beendet hatte.
Georgina hatte sich selbst von Anfang an einen derartigen Leidensweg erspart. Sie hatte einen Mann gefunden, der das Gegenteil von Hunt war. Ein Mann, der nicht in die Siebziger passte. Schon als junger Student hatte Denys wie ein Vierzigjähriger gewirkt. Nicht alle hatten das anziehend gefunden. Er war ein Mann gewesen, der aus der Zeit gefallen schien, der die Tweedanzüge seines Vaters trug, Bücher über Cricket sammelte und eine traditionelle Vorstellung von seiner Zukunft hatte. Er hatte Georgina einen klarenWeg geboten, und sie war diesen Weg mit ihm gegangen – bis an die Spitze. Sie waren in Chequers eingeladen gewesen – mehrmals –, als Margaret Thatcher und John Major Premierminister wurden. Sie hatten auch in Zeiten der Labourregierung auf den entscheidenden Einladungslisten Londons gestanden.
Georgina hatte nie Kinder gewollt, aber manchmal hatte sie sich nach mehr Nähe gesehnt, nach mehr Zuwendung. Denys war nie leidenschaftlich gewesen, und Georgina hatte lernen müssen, damit zu leben. In ihren Dreißigern und Vierzigern war das sehr viel schwerer gewesen als heute. Erst die Menopause hatte diese Sehnsucht langsam verringert. Es war fast eine Befreiung gewesen, nicht mehr so häufig an diese Dinge denken zu müssen. Sie hatte sich manchmal gewünscht, dass sie es nie erlebt hätte, dass sie nie erfahren hätte, was es bedeutete, einen Orgasmus zu haben. Einen allumfassenden, nie enden wollenden Orgasmus. Sie war an diesem Tag nicht mehr sie selbst gewesen, sie hatte den totalen Kontrollverlust erfahren. Es hatte minutenlang gedauert, es waren mehrere Wellen hintereinander gewesen, und sie hatte Farben gesehen, unendlich viele Farben, und nachdem es vorbei gewesen war, hatte sie noch lange diese starken Farben gesehen, alles schien ihr voller Farben.
Hunt hatte darüber nur gelacht, sein verhasstes Wolfslachen. Sie konnte damals nicht lachen, aber sie war sich der Ironie der Situation durchaus bewusst. Den größten Orgasmus ihres Lebens hatte sie mit einem Mann erlebt, den sie verabscheute.
27. Januar 2015 Denys‘ Büro New College Cambridge
„Wir werden dich beurlauben, Hunt.“
Sie saßen in Denys‘ Büro. Hunt stellte wieder einmal mit Genugtuung fest, wie geschmacklos es eingerichtet war. Wuchtige viktorianische Möbel, die Denys von seinen philisterhaften Vorfahren geerbt haben musste. Sie passten in ihrer Düsternis perfekt zu Denys‘ Charakter.
„Du willst mich vom College beurlauben? Ist das dein Ernst?“
Denys machte diesen verletzten Gesichtsausdruck, den er immer aufsetzte, wenn er sich persönlich angegriffen fühlte.
„Ich dachte, du bist bereits von deiner Fakultät beurlaubt worden. Anne deutete an, dass . . .“
„Anne hat gar nichts angedeutet. Ich bin von niemandem beurlaubt worden.“
„Es geht hier in erster Linie um die Reputation unseres Colleges.“
„Ja sicher. Und was sagen deine alten Parteifreunde dazu? Werden sie dich jetzt auch beurlauben?“„Wie bitte?“, fragte Denys. „Stef hat doch für dich gearbeitet. Regierungsaufträge ausgeführt, die du an Land gezogen hast.“
„Was hat das jetzt mit dem Mord zu tun, Hunt?“
„Was habe ich mit dem Mord zu tun? Ich hatte in den letzten Jahrzehnten keinen Kontakt mit Stef. Du hingegen hast ständig mit ihm gesprochen.“
„Allerdings. Weil ich ihn nicht fallen gelassen habe. Weil Georgina und ich zu ihm gestanden haben, als er von der Universität geworfen wurde.“
„Und damit stand er in deiner ewigen Schuld.“
„Ich weiß nicht, worauf du hinauswillst.“
„Was genau hat er da im Science Park für euch entwickelt? Cyberwaffen? Klingt nicht ungefährlich. Ich frage mich, wen so etwas interessieren könnte.“
„Die Ermittlung ist Aufgabe der Polizei.“
„Aber es wird nicht von der Polizei ermittelt, Denys. Das solltest du als gut informierter Mann eigentlich wissen. Es ist mittlerweile ein Fall für Fünf.“
Denys schien einen Moment überrascht zu sein. Hunt fragte sich, ob er es wirklich nicht gewusst hatte. „Für den MI5?“
„Ja, und da mich bis jetzt niemand verhaftet hat, weigere ich mich, beurlaubt zu werden. Übrigens, deine Vitrine da drüben solltest du mal untersuchen lassen. Sie hat meines Erachtens Holzwürmer.“
(Fortsetzung folgt)