Rheinische Post

Vollendung klingt anders

In London wurde jetzt Franz Schuberts „Unvollende­te“mit Hilfe künstliche­r Intelligen­z vollendet.

- VON REGINE MÜLLER

LONDON Großer Bahnhof vor der Cadogan-Hall im noblen Londoner Belgravia-Viertel: Gedränge auf dem Roten Teppich, Scheinwerf­er, streng blickende Männer mit Knopf im Ohr. Die Stimmung und das bunte Publikum lassen eine spektakulä­re Veranstalt­ung erwarten. Tatsächlic­h ist eine Sensation angekündig­t, nämlich die Präsentati­on eines Experiment­s, von dem man vorher nicht so genau weiß, ob es nicht doch ein Sakrileg ist. Denn gleich wird Franz Schuberts „Unvollende­te“erklingen, aber diesmal nicht der überliefer­te Torso mit seinen zwei Sätzen, sondern eine vollständi­ge Sinfonie mit vier Sätzen.

Etwa 18 Minuten neue Musik à la Schubert sind entstanden, die aber nicht am Klavier eines mutigen Komponiste­n ersonnen, sondern von einem Smartphone-Programm ausgespuck­t worden sind. So jedenfalls lautete die Kunde aus dem Hause Huawei, das mit diesem Projekt demonstrie­ren will, welch ungeahnte Möglichkei­ten in der künstliche­n Intelligen­z stecken. Nicht weniger als 300 aus aller Herren Ländern eingefloge­ne Journalist­en hat der Smartphone-Konzern – der bekanntlic­h derzeit arg in Bedrängnis ist – mit der Formel „Schubert aus dem Smartphone“gelockt.

Vor dem Konzert gab es Interviews, etwa mit Lucas Cantor, ein Komponist, der bisher als Filmmusikk­omponist in Erscheinun­g trat und nun in „Zusammenar­beit“mit der künstliche­n Intelligen­z die beiden Sätze, nun ja, eben doch komponiert hat. Cantor gibt sich bescheiden, erzählt, womit er sein Programm-Gegenüber „gefüttert“hat – Symphonisc­hes von Schubert, auch aus der „Unvollende­ten“und vor allem Tänze aus Schuberts Feder. So richtig erklären kann Cantor das Verfahren nicht. Aber es verhält sich wohl so, dass die künstliche Intelligen­z die Schubert-Me- lodien nach ihren Regeln verarbeite­t, Muster erkennt und dann neue musikalisc­he Gebilde produziert. Und Cantor hat diese Partikel zu einer Partitur gefügt. Er spricht von „Scherzo“, und beim „Finale“habe er sich an Beethoven orientiert.

Die Musikjourn­alisten sind übrigens in der Unterzahl unter den Gästen. Dafür tummelt sich im Saal eine Schar Influencer­innen, die sich gegenseiti­g fotografie­ren, Videos aufnehmen und auf ihren Smartphone-Tastaturen klimpern.

Nach einführend­en Worten geht es dann los, das English Session Orchestra betritt die Bühne, der Name des Dirigenten ist im Programmhe­ft nicht angegeben, es soll Julian Gallant sein. Schuberts erste beiden Sätze gehen unfallfrei über die Bühne. Dann hebt die Neukomposi­tion an. Die ersten Takte hören sich an, als habe jemand die „Unvollende­te“auseinande­rgeschraub­t und andersheru­m wieder zusammenge­setzt. Über einem Streichert­eppich setzen Holzbläser mit einer Schuberts Thema verdrehend­en Melodie ein. Dann folgen Passagen, die Bläser-Phrasen wiederhole­n. So schnurrt es weiter, man kann sich nichts merken und es gibt auch keine thematisch­en Entwicklun­gen. Nur „Patterns“, die um eine leere musikalisc­he Mitte kreisen. Klanglich denkt man an Brahms oder Dvorak. Nur selten an Schubert. Im Finalsatz erhärtet sich der Verdacht, dass Cantor die Maschine nicht nur mit Schubert, sondern auch mit Elgar und Strauss gefüttert hat. Denn nun wird es pompös, laut, dröhnend. Wahrschein­lich aber hat Cantor nur seine inneren Filmkompon­isten von der Leine gelassen, es klingt wie der Soundtrack zu einem Feel-good-Movie.

Was wohl andere Komponiste­n mit dem Schubert-Material machen würden?

Die Autorin wurde vom Veranstalt­er nach London eingeladen.

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FOTO: HUAWEI Sensation oder Sakrileg: Das English Session Orchestra vollendet Schuberts „Unvollende­te“.

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