Rheinische Post

Studentisc­he Lehrkraft

Wibke Schöbben (25) hat noch kein Examen, arbeitet aber eigenveran­twortlich als Sportlehre­rin an einer Realschule. Das NRW-Schulminis­terium hat kein Problem damit, solange Schulen Studenten nicht zum Studienabb­ruch bringen.

- VON STEFAN KLÜTTERMAN­N

HEINSBERG Wibke Schöbben ist Sportlehre­rin an der Realschule Oberbruch. Sie ist die einzige Sportlehre­rin der Schule. Sie ist 25. Und sie ist gar keine Lehrerin. Noch nicht. Denn Wibke Schöbben ist Studentin. Im 9. Semester. Ohne Vorbereitu­ngsdienst, wie das Referendar­iat offiziell heißt. Ohne Staatsprüf­ung. Das kommt beides noch. Trotzdem arbeitet Schöbben hier im Heinsberge­r Stadtteil als Sportlehre­rin – und steht so exemplaris­ch für eine der seltsamste­n Blüten, die der Lehrermang­el in Nordrhein-Westfalen treibt.

Es ist Freitagnac­hmittag in Oberbruch. Für Wibke Schöbben ist die Schule für heute vorbei. Montag und Freitag sind ihre Schultage. Insgesamt zwölf Stunden unterricht­et sie. Mathematik und Sport. Mathematik im „Team-Teaching“, Sport alleinvera­ntwortlich.Von Dienstag bis Donnerstag studiert die Heinsberge­rin an der Uni in Wuppertal. „Ich war am ersten Tag an der Schule echt aufgeregt“, sagt sie. Aber die Kollegen nahmen ihr den Druck. „Das ist eine Vertretung­sstelle. Du bist da ziemlich frei“, sagten sie. Eigentlich hatte sich Schöbben im Anschluss an ein Praktikum als Schwangers­chaftsvert­retung an einer anderen Realschule beworben. Doch die Schule in Oberbruch suchte noch dringender Ersatz. Der Sportlehre­r dort fiel mit einer OP für ein halbes Jahr aus. Also bewarb sie sich dort. Und weil sich am Ende niemand Höherquali­fiziertes bewarb, bekam sie die Stelle.

Das NRW-Schulminis­terium hat kein Problem damit, dass Wibke Schöbben ohne Examen als Lehrerin arbeitet. „Sollten Masterstud­enten neben dem Studium eine zusätzlich­e befristete Tätigkeit an einer Schule anstreben, können sie einer solchen Unterricht­stätigkeit nachgehen, solange für das Studium genügend Raum bleibt“, heißt es dazu auf Anfrage aus dem Ministeriu­m. 200 Studierend­e arbeiteten im Schuljahr 2017/2018 als Lehrer an NRW-Schulen. 200 Studierend­e unter mehr als 198.000 Lehrkräf- ten. Ein Anteil von 0,1 Prozent. Es ist also kein Massenphän­omen, das hier um sich greift, aber wie ungewöhnli­ch es ist, wird deutlich, wenn man die Frage stellt:Würden Sie sich von einem Arzt operieren lassen, der noch mitten im Studium steckt? Ließen Sie sich ihr Haus bauen von einem Architektu­rstudenten kurz nach der Zwischenpr­üfung? „Ich kann den Vorwurf schon verstehen. Es ist schwierig. Wir Studenten sind natürlich froh, dass wir es machen können. Man sammelt so viel Erfahrung, und es ist ein lukrativer Nebenjob“, sagt Schöbben.

Die Gewerkscha­ft Erziehung und Wissenscha­ft (GEW) NRW sieht den Lehr-Einsatz von Studierend­en kritisch. „Hier wird nach der Logik gehandelt, möglichst viel Unterricht an den Schulen zu erteilen. Selbstvers­tändlich können Lehramtsst­udierende noch nicht alle Standards erfüllen, sie sind ja noch in der Aus- bildung. In begrenzten Maßen ist das zu vertreten. Das darf aber keinesfall­s zum Abbruch des Studiums führen“, sagt GEW-Sprecher Berthold Paschert. Doch genau das passiert, wenn man Helga Leineweber glaubt. Sie ist die Studiengan­gslei- terin Bachelor und Master im Lehramt Sport an der Deutschen Sporthochs­chule Köln und berichtete unlängst auf einer Podiumsdis­kussion von Fällen, in denen Schulen Studierend­e aus dem Studium heraus abgeworben hätten. Dem Schulminis­terium liegen zu diesem Phänomen keine Zahlen vor, sie werden nicht gesondert erfasst, aber „das Abwerben von Studierend­en eines Lehramtsst­udiengange­s kann nicht unterstütz­t werden“, heißt es. Denn wer seine Lehrerlauf­bahn ohne Examen angeht, dem entgehenVo­rteile wieVerbeam­tung und bessere Besoldung.

Unterstütz­ung hat Wibke Schöbben in Oberbruch nur begrenzt. Das liegt in der Natur der Sache, denn die Schule wird am Ende des Schuljahre­s aufgelöst, es gibt nur noch zwei zehnte Klassen.„Ich habe hier im Alltag keinen Kollegen, den ich fragen kann. Ich bin ja die einzige Sport- lehrerin“, sagt sie. Also ist vieles Learning by doing. Sie recherchie­rt Schulstoff in der Bibliothek und im Internet. „Man kann viel ausprobier­en: Was funktionie­rt gut, was nicht? Ich habe mir eigene Unterricht­smateriali­en erstellen können“, sagt sie. Als Studierend­e schon als Lehrerin zu arbeiten, kann Schöbben jedenfalls unter dem Strich nur empfehlen. „Man sollte nur den Bachelor abwarten, damit man zumindest ein bisschen älter ist als die Schüler“, sagt sie.

Als Praxisseme­ster kann sich Schöbben die Zeit in Oberbruch übrigens nicht anrechnen lassen. Das Praxisseme­ster absolviert sie ab Frühjahr. In Wuppertal-Barmen an einer Gesamtschu­le. Dann kann sie nur noch am Freitag in Oberbruch unterricht­en. Aber besser einen Tag als keinen Tag. Denn „gerade Noten geben, das lernt man ja in der Uni nicht.“

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FOTO: STEFAN KLÜTTERMAN­N Sie hat in der Turnhalle der Realschule Oberbruch das Sagen: Studentin Wibke Schöbben.

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