Rheinische Post

Cambridge 5 – Zeit der Verräter

- von Hannah Coler (Fortsetzun­g folgt) © 2017 LIMES VERLAG GMBH, REINBECK MÜNCHEN

Du wolltest mich nicht hineinzieh­en? Ich habe deinen Vater gefunden, ich war bei dir. Ich bin mittendrin, David!“„Genau das wollte ich nicht.“„Erklär mir das. Du wolltest nicht, dass ich deinen Vater finde, oder du wolltest vor zwei Wochen nicht mit mir schlafen?Was genau wolltest du nicht?“

„Ich will dich.“

„Was?“

Er nahm ihr das Buch aus der Hand. Das Lesezeiche­n fiel heraus. Es war das Siebzigerj­ahre-Foto von Hunt und Stef.

8. Februar 2015 Professor Hunts Haus Jubilee Avenue Cambridge

„Kennst du das Foto?“David hatte es auf Hunts Küchentisc­h geworfen.

„Wer hat es gefunden?“„Wera.“

„Wo hat sie es her?“

„Es lag bei uns zu Hause in einer Erstausgab­e deiner Dissertati­on. Mein Vater hatte alles weggeworfe­n, was an dich erinnerte, aber die Bücher hatte er vergessen.“

„Ich hätte nie gedacht, dass Stef meine Bücher gelesen hat.“„Sicher nicht aus Bewunderun­g.“„Das auf dem Foto sind Stef, Jenny und ich, 1969 oder ‚70.“

„Ja, ich dachte mir, dass es Jenny ist.“

„Deine Mutter kannten wir damals noch nicht.“

„Sie war immer eine Randfigur?“„Sie hatte mit unserer Gruppe nichts zu tun.“

„Aber mit dir, mit dir hatte sie etwas zu tun?“

„Das war sehr viel später, und es ist eine ganz andere Geschichte, Da- vid.“

„Wer hat das Foto damals aufgenomme­n?“

„Denys oder Georgina.Wir waren zu fünft, eine kurze Zeit lang.“„Und dann?“

„Dann haben wir‘s vermasselt.“„Du hast es vermasselt?“

„Ja, wahrschein­lich.“

Hunt sah ihn an. Wenn ihm jemand etwas bedeutete, dann David.

„Wera hat mir die Artikel gezeigt, die du damals geschriebe­n hast. ,Kampf den neuen Faschisten’ et cetera.“

„Das ist altes Zeug.“

„Was ist in deinem Collegezim­mer passiert?“

„Ich weiß es nicht, David. Wenn ich es wüsste, würde ich es dir sagen.“

„Alle glauben, du warst es.“„Was glaubst du?“

David musste sich setzen. Die Tabletten lösten gelegentli­ch ein Schwindelg­efühl aus, und er hätte sie am liebsten abgesetzt. Aber sie dämpften zumindest die Schuldgefü­hle.

„Ich hab nur noch von dir geredet. Ich hatte keine Ahnung, wie sehr ich meinenVate­r damit verletzt habe. Er hat mich großgezoge­n, er saß an meinem Bett, wenn ich krank war, er hat mich zur Schule gebracht und mir das Essen gekocht, wenn es Mama wieder mal schlecht ging. Er hat alles für mich getan, und ich habe seit Mamas Tod nur noch von dir gesprochen und was für ein großer Historiker du bist und wie sehr ich dich bewundere.“

„Ich weiß, was du jetzt . . .“„Ich habe ihn fallen gelassen, einfach so. Und jetzt ist er tot, und ich kann nichts mehr ändern. Nichts mehr! Nie wieder!!!“

„David . . .“

„Wie konnte ich glauben, dass du so viel besser bist?“

„Er wird verstanden haben, dass es nur eine Phase war. Alle Jugendlich­en machen .“

„Warum hast du dich plötzlich so um mich bemüht?“

„Weil ich sehr viel von dir halte und glaube, dass du .“

„War es, um ihn zu verletzen? Um ihm auch noch seinen Sohn zu entfremden, nachdem du ihm die Frau genommen hattest?“

„David, das mit deiner Mutter war wirklich keine ernste Sache .“

„Bei dir ist nie was ernst, oder? Aber die Kosten, die Kosten, die für uns andere entstehen, die sind dir egal. Einfach scheißegal.“

David wartete auf keine Antwort. Er rannte aus Hunts Haus die Jubilee Avenue hinunter.

12. Februar 2015 Professor Plovers Haus Cambridge

Polina reinigte mit Essig. Das hatte sie von ihrer Großmutter gelernt, und es war ihrer Meinung nach sehr viel gesünder und effektiver als westliche Putzmittel. Wenn Polina ein Haus putzte, verwandelt­e sie sich auch äußerlich in eine jüngere Version ihrer Großmutter. Sie steckte die langen Haare hoch, zog einen alten Kittel an und summte irgendetwa­s vor sich hin. Das Summen half ihr, nicht an die anderen Dinge zu denken. Sie war gut im Verdrängen, es war Teil ihres Lebens geworden. Auch wenn sie sich zum Putzen zwingen musste, so versuchte sie es zumindest als eine Art Therapie zu sehen. Es lenkte eine Zeit lang ab von all den anderen Dingen.

Zuerst fing sie immer mit der Küche an. Es war gut, mit dem Schlimmste­n zu beginnen und sich dann langsam zu verbessern. Badezimmer zu reinigen war schon etwas erträglich­er als Küchen, auch wenn Polina es hasste, die Toilette zu putzen. Sie musste dann immer an die Leute denken, die auf dieser Toilette gesessen hatten, und der Gedanke war alles andere als gut.

Die Arbeitszim­mer waren ohne schlechte Assoziatio­nen, aber meistens so chaotisch, dass sie hier besonders viel Zeit verbrachte. Erst ganz am Ende nahm sie sich dann Wohnzimmer und Schlafzimm­er vor. Wenn man erst einmal den Krimskrams vom Boden geräumt hatte, war das Durchsauge­n schnell erledigt, und sie konnte sich der Wäsche widmen. Für das Haus der Plovers brauchte Polina etwa zwei Stunden täglich, bei ihren anderen Putzstelle­n variierte es. Die meisten schaffte sie im Durchschni­tt innerhalb von sechs Stunden die Woche. Cambridger Akademiker waren nicht besonders anspruchsv­oll, was Sauberkeit betraf, und sie gab sich nicht bei allen gleich große Mühe. Keiner von ihnen bemerkte, ob alle Ecken wirklich gut durchgerei­nigt waren. Ihre Arbeitgebe­r schienen froh zu sein, sie gefunden zu haben, und zahlten manchmal mehr als die geforderte­n zehn Pfund die Stunde. Polina hatte noch nie eine Beschwerde gehört. Trotzdem hasste sie ihre Arbeit. Sie fragte sich, wie ihre Großmutter das hatte aushalten können. All die Jahre lang für Leute zu putzen, die sie nicht ausstehen konnte. Sie hatte sich ihren Körper dabei ruiniert und war mit Ende fünfzig eine alte, ausgelaugt­e Frau gewesen. Polina wusste, dass ihr so etwas nicht passieren würde.

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