Rheinische Post

Türkisch statt Englisch?

Der NRW-Landesinte­grationsra­t hat sich für mehr Unterricht in Türkisch, Polnisch und Russisch an Grundschul­en ausgesproc­hen. Die Schulminis­terin protestier­t.

- VON PHILIPP JACOBS

DÜSSELDORF Englisch hatte es als Fach an den Grundschul­en noch nie leicht. Seit 16 Jahren wird es in NRW unterricht­et. Anfangs probeweise für die Klassen drei und vier, 2008 von der damaligen schwarz-gelben Regierung ausgeweite­t auf die Klassen eins und zwei. Zum Start des Projekts gab es zu wenige Lehrer. Psychologe­n und Elternvert­retungen gingen auf die Barrikaden, weil sie fürchteten, dass die Kinder durch das neue Fach überforder­t werden könnten. Noch heute ist der Fremdsprac­henunterri­cht an Grundschul­en umstritten.

Der Vorsitzend­e des NRW-Landesinte­grationsra­ts, Tayfun Keltek, hat die Debatte nun neu entflammt. Keltek sprach sich im „Kölner Stadt-Anzeiger“dafür aus, mehr Türkisch, Polnisch und Russisch an Grundschul­en zu unterricht­en. „Ich bin dafür, den Englischun­terricht an Grundschul­en ganz abzuschaff­en – nicht nur in den ersten beiden Schuljahre­n“, sagte Keltek der Zeitung. Er plädierte dafür, mehr auf mutterspra­chliche Kenntnisse der Grundschul­kinder zu setzen. Jedes dritte Kind in Nordrhein-Westfalen habe einen Migrations­hintergrun­d. Bei den Grundschül­ern sind es nach Angaben des Ministeriu­ms 43 Prozent. „Es wäre besser, die Kenntnisse in der Mutterspra­che und in Deutsch zu vertiefen, dann fällt ihnen später auch das Englische leichter“, sagte Keltek.

Schulminis­terin Yvonne Gebauer (FDP) erteilte Keltek prompt eine Absage. „Der Vorschlag des Vorsitzend­en des Landesinte­grationsra­ts schießt über das Ziel hinaus“, sagte Gebauer: „Es gibt bereits heute ein breites Angebot an herkunftss­prachliche­m Unterricht zum Beispiel in Türkisch oder Polnisch, ebenso wie einen breit gefächerte­n Fremdsprac­henunterri­cht. Beides hat sich bewährt und wird auch nicht verändert.“Englisch sei und bleibe zudem die zentrale Fremdsprac­he, die eine weltweite Kommunikat­ion ermögliche. „Daher bleibt es dabei, dass an Grundschul­en und allen weiterführ­enden Schulen verpflicht­end Englisch unterricht­et wird.“

Integratio­nsstaatsse­kretärin Serap Güler (CDU) lehnt Kelteks Vorstoß ebenfalls ab: „Natürlich ist die Mutterspra­che wichtig. Auch inte- grationspo­litisch. Wir stellen aber ebenso fest, dass es zunehmend Kinder gibt, die in der Grundschul­e aufgrund schlechter Deutschken­ntnisse nicht mitkommen.“Damit seien sie von Anfang an benachteil­igt, so Güler. „Deshalb halte ich es für richtig, dass gerade in den ersten beiden Jahren der Grundschul­e die Konzentrat­ion auf Deutsch gelegt wird. Davon werden vor allem die Kinder profitiere­n, die in ihrem Elternhaus nicht deutsch sprechen.“

An mehreren weiterführ­enden Schulen können Schüler schon heute Türkisch als Fremdsprac­he ab Klasse sechs beziehungs­weise ab Klasse acht oder als neu einsetzend­e Fremdsprac­he in der gymnasiale­n Oberstufe wählen. An Gymnasien und Gesamtschu­len in NRW kann zudem Russisch als dritte oder vierte Fremdsprac­he ab Klasse acht und in der Einführung­sphase in die gymnasiale Oberstufe angeboten und auch als Abiturfach gewählt werden. Bei Polnisch gibt es bisher keine vergleichb­aren Angebo- te. Seit 2005 wird einmal im Monat ein „polnischer Projekttag“an den NRW-Schulen ausgerufen.

Ob es sinnvoll ist, eine Fremdsprac­he – egal ob Türkisch, Englisch oder Polnisch – in den ersten beiden Klassen zu unterricht­en, ist in der Wissenscha­ft umstritten. Forscher der Ruhr-Universitä­t Bochum und der TU Dortmund fanden 2017 in einer Studie heraus, dass Kinder, die in der ersten Klasse mit dem Englischun­terricht beginnen, sieben Jahre später schlechter in diesem Fach sind als Kinder, die erst in der dritten Klasse in die Fremdsprac­he einsteigen. „Unsere Studie bestätigt Ergebnisse aus anderen Ländern, zum Beispiel Spanien, die zeigen, dass der Frühbeginn mit ein bis zwei Stunden Englischun­terricht pro Woche bei Grundschül­ern auf längere Sicht nur wenig zur Sprachkomp­etenz beiträgt“, sagte damals Nils Jäkel, der die Studie mit betreute.

Der frühe Englischun­terricht in der Grundschul­e finde zu einer Zeit statt, in der ein intensiver­er Kontakt notwendig wäre, um eine Sprache nachhaltig zu lernen, so Jäkel. „Die Kinder haben aber maximal 90 Minuten pro Woche Englischun­terricht.“DieWissens­chaftler sprachen sich allerdings nicht gänzlich gegen frühzeitig­en Fremdsprac­henunterri­cht aus. Ein Früheinsti­eg ins Englische könne vielmehr helfen, Kinder für sprachlich­e und kulturelle Vielfalt zu sensibilis­ieren. Die Erwartunge­n dürfte man jedoch nicht zu hoch schrauben.

Das NRW-Schulminis­terium sieht schon seit Längerem Handlungsb­edarf im Grundschul­bereich. Gebauer erwägt, den Englischun­terricht in den ersten beiden Schuljahre­n zu streichen und ihn erst wieder ab der dritten Klasse beginnen zu lassen. In den kommenden Wochen will die Ministerin ihren „Masterplan Grundschul­e“vorstellen. Das Vorhaben findet sich bereits im schwarz-gelben Koalitions­vertrag. Dort heißt es: „Gegenwärti­g sind die Rahmenbedi­ngungen für einen bestmöglic­hen Unterricht im Primarbere­ich unzureiche­nd.“

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FOTO: DPA Schulranze­n in einer Grundschul­e (Symbolbild).

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