Türkisch statt Englisch?
Der NRW-Landesintegrationsrat hat sich für mehr Unterricht in Türkisch, Polnisch und Russisch an Grundschulen ausgesprochen. Die Schulministerin protestiert.
DÜSSELDORF Englisch hatte es als Fach an den Grundschulen noch nie leicht. Seit 16 Jahren wird es in NRW unterrichtet. Anfangs probeweise für die Klassen drei und vier, 2008 von der damaligen schwarz-gelben Regierung ausgeweitet auf die Klassen eins und zwei. Zum Start des Projekts gab es zu wenige Lehrer. Psychologen und Elternvertretungen gingen auf die Barrikaden, weil sie fürchteten, dass die Kinder durch das neue Fach überfordert werden könnten. Noch heute ist der Fremdsprachenunterricht an Grundschulen umstritten.
Der Vorsitzende des NRW-Landesintegrationsrats, Tayfun Keltek, hat die Debatte nun neu entflammt. Keltek sprach sich im „Kölner Stadt-Anzeiger“dafür aus, mehr Türkisch, Polnisch und Russisch an Grundschulen zu unterrichten. „Ich bin dafür, den Englischunterricht an Grundschulen ganz abzuschaffen – nicht nur in den ersten beiden Schuljahren“, sagte Keltek der Zeitung. Er plädierte dafür, mehr auf muttersprachliche Kenntnisse der Grundschulkinder zu setzen. Jedes dritte Kind in Nordrhein-Westfalen habe einen Migrationshintergrund. Bei den Grundschülern sind es nach Angaben des Ministeriums 43 Prozent. „Es wäre besser, die Kenntnisse in der Muttersprache und in Deutsch zu vertiefen, dann fällt ihnen später auch das Englische leichter“, sagte Keltek.
Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) erteilte Keltek prompt eine Absage. „Der Vorschlag des Vorsitzenden des Landesintegrationsrats schießt über das Ziel hinaus“, sagte Gebauer: „Es gibt bereits heute ein breites Angebot an herkunftssprachlichem Unterricht zum Beispiel in Türkisch oder Polnisch, ebenso wie einen breit gefächerten Fremdsprachenunterricht. Beides hat sich bewährt und wird auch nicht verändert.“Englisch sei und bleibe zudem die zentrale Fremdsprache, die eine weltweite Kommunikation ermögliche. „Daher bleibt es dabei, dass an Grundschulen und allen weiterführenden Schulen verpflichtend Englisch unterrichtet wird.“
Integrationsstaatssekretärin Serap Güler (CDU) lehnt Kelteks Vorstoß ebenfalls ab: „Natürlich ist die Muttersprache wichtig. Auch inte- grationspolitisch. Wir stellen aber ebenso fest, dass es zunehmend Kinder gibt, die in der Grundschule aufgrund schlechter Deutschkenntnisse nicht mitkommen.“Damit seien sie von Anfang an benachteiligt, so Güler. „Deshalb halte ich es für richtig, dass gerade in den ersten beiden Jahren der Grundschule die Konzentration auf Deutsch gelegt wird. Davon werden vor allem die Kinder profitieren, die in ihrem Elternhaus nicht deutsch sprechen.“
An mehreren weiterführenden Schulen können Schüler schon heute Türkisch als Fremdsprache ab Klasse sechs beziehungsweise ab Klasse acht oder als neu einsetzende Fremdsprache in der gymnasialen Oberstufe wählen. An Gymnasien und Gesamtschulen in NRW kann zudem Russisch als dritte oder vierte Fremdsprache ab Klasse acht und in der Einführungsphase in die gymnasiale Oberstufe angeboten und auch als Abiturfach gewählt werden. Bei Polnisch gibt es bisher keine vergleichbaren Angebo- te. Seit 2005 wird einmal im Monat ein „polnischer Projekttag“an den NRW-Schulen ausgerufen.
Ob es sinnvoll ist, eine Fremdsprache – egal ob Türkisch, Englisch oder Polnisch – in den ersten beiden Klassen zu unterrichten, ist in der Wissenschaft umstritten. Forscher der Ruhr-Universität Bochum und der TU Dortmund fanden 2017 in einer Studie heraus, dass Kinder, die in der ersten Klasse mit dem Englischunterricht beginnen, sieben Jahre später schlechter in diesem Fach sind als Kinder, die erst in der dritten Klasse in die Fremdsprache einsteigen. „Unsere Studie bestätigt Ergebnisse aus anderen Ländern, zum Beispiel Spanien, die zeigen, dass der Frühbeginn mit ein bis zwei Stunden Englischunterricht pro Woche bei Grundschülern auf längere Sicht nur wenig zur Sprachkompetenz beiträgt“, sagte damals Nils Jäkel, der die Studie mit betreute.
Der frühe Englischunterricht in der Grundschule finde zu einer Zeit statt, in der ein intensiverer Kontakt notwendig wäre, um eine Sprache nachhaltig zu lernen, so Jäkel. „Die Kinder haben aber maximal 90 Minuten pro Woche Englischunterricht.“DieWissenschaftler sprachen sich allerdings nicht gänzlich gegen frühzeitigen Fremdsprachenunterricht aus. Ein Früheinstieg ins Englische könne vielmehr helfen, Kinder für sprachliche und kulturelle Vielfalt zu sensibilisieren. Die Erwartungen dürfte man jedoch nicht zu hoch schrauben.
Das NRW-Schulministerium sieht schon seit Längerem Handlungsbedarf im Grundschulbereich. Gebauer erwägt, den Englischunterricht in den ersten beiden Schuljahren zu streichen und ihn erst wieder ab der dritten Klasse beginnen zu lassen. In den kommenden Wochen will die Ministerin ihren „Masterplan Grundschule“vorstellen. Das Vorhaben findet sich bereits im schwarz-gelben Koalitionsvertrag. Dort heißt es: „Gegenwärtig sind die Rahmenbedingungen für einen bestmöglichen Unterricht im Primarbereich unzureichend.“