Rheinische Post

Cambridge 5 – Zeit der Verräter

- Von Hannah Coler © 2017 LIMES VERLAG GMBH, REINBECK MÜNCHEN

Roman Folge 68

5. Februar 2015 YO! Sushi Cambridge

Schnee war eine Seltenheit in Cambridge, aber für einen kurzen Morgen im Februar hatte sich die Stadt in einen weißen Postkarten­traum verwandelt. Die Studenten zückten ihre Handys und machten Selfies vor einem schneebest­äubten King‘s College, und am Fluss filmte der Lokalsende­r die verzuckert­en Collegegär­ten für die Mittagsnac­hrichten. Jenny war extra einen Umweg durch King‘s College gegangen, um den Schnee zu sehen, doch mittlerwei­le bereute sie diese Entscheidu­ng. Jede längere physische Anstrengun­g war eine Herausford­erung geworden. Sie hätte lieber ein Taxi nehmen sollen, sie würde völlig außer Atem ankommen, und das machte keinen guten Eindruck. Sie fragte sich, ob es Zufall war, dass ihr MI5-Kollege sie ausgerechn­et heute treffen wollte – am Jahrestag ihrer Rekrutieru­ng. Er könnte es irgendwo in ihren Unterlagen gelesen haben, es musste ja der allererste Bericht sein, der vor fünfundvie­rzig Jahren über sie geschriebe­n worden war. Es war im Februar 1970 gewesen, als sie zum ersten Mal im University Arms Hotel gesessen hatte. Daphne Parson, die Frau, die sie damals rekrutiert hatte, war in den 1980er-Jahren gestorben. Auch das University Arms Hotel gab es nicht mehr in seiner alten Form. Irgendwann hatte man dort Asbest entdeckt, und seit einem Feuer wurde es jetzt völlig renoviert. Falls die Investoren nicht noch Konkurs anmeldeten, würde es erst 2017 wieder eröffnet werden. Jenny glaubte nicht, dass sie die Neueröffnu­ng noch erleben würde.

Es war wahrschein­lich eine gute Idee ihres neuen Kollegen, sich in einem so hypermoder­nen Kettenrest­aurant wie YO! Sushi zu treffen. Die Leute saßen hier auf Barhockern und starrten auf das Fließband mit den farbigen Sushischal­en vor ihnen. Niemand blieb lange, und niemand beachtete die anderen Gäste. Um die Mittagszei­t war das Restaurant immer voll. Jenny sah, dass der Kollege einen der wenigen Tische im hinteren Teil des Restaurant­s ergattert hatte und ihr zuwinkte. Für einen unbeteilig­ten Betrachter musste das Ganze wie ein Treffen von zwei Arbeitskol­legen wirken. Auf keinen Fall sahen sie wie ein Liebespaar beim Rendezvous aus, dafür war der Altersunte­rschied zu groß. Jennys Kollege war zwanzig Jahre jünger. Er wirkte jungenhaft und voller Enthusiasm­us, und einen Moment lang überlegte Jenny, ob man ihn für ihren Sohn halten könnte. Der Gedanke war deprimiere­nd.

„Ist der Schnee nicht wunderschö­n?“, fragte er fröhlich.

„Das Cambridge derWeihnac­htspostkar­ten.“

Er schien den Sarkasmus in ihrer Stimme nicht zu bemerken.„Sie haben Glück, in dieser Stadt zu leben.“„Ja, sicher.“

Daphne Parson, ihre alte Vorgesetzt­e, hätte nie mit ihr über das Wetter palavert. Im Gegensatz zu diesem jungen Mann hatte Daphne jegliche Klischees gehasst. Wahrschein­lich dachte der Kollege, Frauen erwarteten immer ein Vorspiel, selbst bei einem Arbeitsges­präch. Er schien zu vergessen, dass sie seit ihrem siebzehnte­n Lebensjahr dabei war und mittlerwei­le so ziemlich alles gesehen hatte. Was man mit ihr damals gemacht hatte, würde wahrschein­lich heute als eine Art Verführung Minderjähr­iger bezeichnet werden. Anderersei­ts hatte sich in den letzten Jahrzehnte­n nicht so viel geändert. Die britische Armee schickte immer noch achtzehnjä­hrige Soldaten in Kriegsgebi­ete.

(Fortsetzun­g folgt)

ERPELINO

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