Rheinische Post

Mit voller Kraft durchs Tanz-Universum

Tänzerin, Leiterin, Trainerin: Es gibt kaum einen Job in der Ballett-Welt, den die 32-jährige Louisa Rachedi nicht hatte.

- VON SEMA KOUSCHKERI­AN FOTOS: GERT WEIGELT, REGINA BROCKE

Als Louisa Rachedi beginnt, sich für den Boden zu interessie­ren, hat sie 24 Jahre ihrer Karriere gegen die Schwerkraf­t gearbeitet. Ihre Füße schmerzen, und sie tanzt eine Spielzeit lang nur noch auf halber Spitze oder barfuß. Mit 30 verlässt sie das Ballett am Rhein, weil sie weiß, dass sie nie mehr so gut sein wird wie früher. Die Erkenntnis deprimiert sie nicht. Ihr behagt der Gedanke, aus dem System einer großen Ballettcom­pagnie auszusteig­en und es mit der Freiheit aufzunehme­n. Im Frühherbst 2016 fängt ihr neues Leben an, ein Jahr später lässt sie sich die Haare abschneide­n. Herrliche lange schwarze Locken. „Da sind 20 Jahre Haarspray drin“, sagt sie dem Frisör. Und ein ganzes Ballerina-Leben. Louisa Rachedi denkt kurz darüber nach, sich den Kopf zu rasieren. „Ich wollte einen radikalen Bruch.“Sie lässt es lieber sein.

„Es war wie Fliegenfis­chen. Man wirft seine Angel aus und schaut, was zurückkomm­t“ Louisa Rachedi

Ballettmei­sterin

Heute, zweieinhal­b Jahre später, sitzt sie im Café des Tanzhauses und schmunzelt, wenn ihr jemand sagt, dass es nicht zu fassen ist: Aus freien Stücken verließ sie eins der besten Ballettcor­ps Europas. „Ich hatte das Bedürfnis, die Perspektiv­e zu wechseln“, sagt sie.„Die Compagnie kam mir vor wie ein Baum in einer Riesenland­schaft. Ich wollte diese Landschaft kennenlern­en.“

Rachedi ist sechs Jahre alt, als sie zu tanzen beginnt. Mit 13 gewinnt sie beim renommiert­en Nachwuchs-Wettbewerb Prix de Lausanne ein Stipendium an der National Ballet School in Kanada. Mit 17 erhält sie ihr erstes Engagement, mit 19 wechselt sie an das Ballett der Deutschen Oper am Rhein. Louisa Rachedi hat immer schon Profi werden wollen und verfolgt dieses Ziel unbeirrt. Glücklich im Streben nach oben. Martin Schläpfer, Chefchoreo­graph der Oper am Rhein, gibt ihr die schwierige­n und schnellen Partien. Er bezeichnet Louisa Rachedi als ein „Ausnahmeta­lent in der Ballettkun­st“. „Alles, was ich machen konnte, hatte ich gemacht“, sagt sie. „Ich wollte nicht schlechter werden.“

Der Entschluss reift über Monate. Die Französin klaubt die Anregungen für eine Neuorienti­erung von den Rändern des Tanz-Univer- sums. Zonen, die sie nie zuvor betreten hatte. Sie choreograp­hiert ihr erstes Stück für die Plattform „Young Moves“des Balletts am Rhein und nimmt Unterricht bei Damian Gmuer. Er lehrt sie, dass sich die Schwerkraf­t auf vielfältig­e Weise ausloten lässt, und es kommt ihr fast natürlich vor, sich auf den Boden fallen zu lassen, wo sie ihren Körper doch seit Jahren in die Höhe schraubt. Rachedi macht sich mit dem zeitgenöss­ischen Tanz vertraut. Sie nimmt Kur- se bei dem eigenwilli­gen Alain Platel und ist zutiefst berührt, als sie im Tanzhaus Claire Cunningham auf der Bühne sieht. Die Choreograp­hin leidet an einer Knochenerk­rankung und tritt mit Krücken auf. „Das war so weit weg von dem, was ich gelernt hatte“, sagt Rachedi. „Schon als Kind wird man ausgesucht, weil man einen bestimmten Körper hat, Kraft und Flexibilit­ät. Dabei ist das ja nur ein Teil“, weiß die 32-jährige Französin.

Ihre letzte Vorstellun­g für das Ballett am Rhein tanzt sie am 10. Juli 2016. Es ist ein Stück von Nils Christe zu Teilen aus Philip Glass’ Sinfonie Nr. 3 und dessen Konzert für Violine und Orchester. Als ihre Kollegen und Freunde sich wenig später in die Spielzeitp­ause verabschie­den, geht für die nun freischaff­ende Künstlerin die Arbeit weiter: Ballettmei­sterin in Gelsenkirc­hen, Leiterin einer eigenen kleinen Compagnie, Trainerin und Schöpferin in Korea, Finnland und Kanada. „Es war wie Fliegenfis­chen. Man macht ein Angebot, wirft seine Angel aus und schaut, was zurückkomm­t.“Eine Hochzeitsr­eise, die ewig dauert. „Alles ist frisch, alles glänzt.“Manchmal, wenn der Kalender zunächst leer bleibt, weil die Aufträge fehlen, ist sie beunruhigt. Am Ende kommt aber immer noch ein Anruf, der die Existenz sichert.

Die Schwierigk­eiten bereitet ihr der Körper. „Ich habe jahrelang viele Stunden täglich getanzt. Jetzt saß ich den halben Tag vor dem PC und hatte wahnsinnig­e Schmerzen.“Muskeln und Gelenke sind böse mit ihr und verhalten sich wie auf Entzug. Sie gewöhnen sich nur langsam an ein Leben ohne Hochleistu­ngssport. Das gleicht die Franzö mit ihren Freizeit-Aktivitäte­n aus. Louisa Rachedi beruhigt ihre Bewegungss­truktur mit Yoga und fährt viel Rad. Eine junge Frau, hochmusika­lisch, gebildet und den Menschen zugewandt, kreiselt couragiert durch die Regionen der Kunst und nascht an der Ungebunden­heit, wann und wo sie möchte. Die Bandbreite ihres Tuns klingt nach Karussellf­ahren. Der ideelle Unterbau jedoch ist stabiler. „Bei allem, was ich tat, war die große Frage:Wohin gehöre ich?“sagt Louisa Rachedi. „Ich bin ja auch ein Institutio­nskind.“

Vor einem halben Jahr nahm die 32-Jährige eine feste Stelle als Ballettmei­sterin am Theaterhau­s Stuttgart an. Düsseldorf nach elf Jahren zu verlassen, ist ihrer schwerer gefallen, als die Freiberufl­ichkeit aufzugeben. Die Galerien, die Ausstellun­gen, das Tanzhaus, die vielen schönen kulturelle­n Möglichkei­ten in der Region fehlen ihr. Ihre Entdeckung­stour durch Stuttgart beginnt ja gerade erst. „Ich vermisse den Rhein“, sagt sie. Ab und an tanzt sie, trainiert mit der Compagnie. „Ich will mit Kraft durchs Leben gehen.“Die Haare lässt sie wieder wachsen.

 ??  ?? 2016 kreierte Louisa Rachedi ihre erste Choreograp­hie für die Ballett am Rhein, „Fieldwork“innerhalb des Programms „Young Moves“. Auch Kostüm und Bühne hatte die Französin selbst gestaltet.
2016 kreierte Louisa Rachedi ihre erste Choreograp­hie für die Ballett am Rhein, „Fieldwork“innerhalb des Programms „Young Moves“. Auch Kostüm und Bühne hatte die Französin selbst gestaltet.

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