Rheinische Post

Die Brüder Dulatov

Jabrail Dulatov und seine Brüder Islam, Sulumbek und Tamerlan sind Laufsteg-Models und Kampfsport­ler. Sie leben in Rath.

- VON HELENE PAWLITZKI

Dies ist die unglaublic­he Geschichte der Brüder Dulatov, die eines Tages größer sein werden als die Kardashian­s. „Weil wir Talent haben“, sagt Sulumbek, 23. Er ist der zweitältes­te. Das Sagen hat Jabrail, 24. Islam ist 20, Tamerlan 18 Jahre alt. Und es gibt noch zwei weitere Brüder, sieben und sechs Jahre alt.

Sie sind schmal gebaut, aber durchtrain­iert, dunkeläugi­g, dunkelhaar­ig, mit vollen Lippen, hohen Wangenknoc­hen und eckigem Kiefer, so als habe Kim Kardashian höchstpers­önlich das Contouring übernommen. Aber das ist kein Make-up. Das ist alles echt. Calvin Klein, Gucci, Alexander McQueen, Hugo Boss – das sind die Marken, für die die Dulatovs auf dem Laufsteg und vor der Kamera modeln. Islam, der drittältes­te der Brüder, begann seine Karriere mit einem Exklusivve­rtrag bei Versace. Die Modezeitsc­hrift „Vogue“nannte ihn im vergangene­n Sommer eins von „Zehn Männermode­ls der Stunde“.„Islam hat es zum Beispiel auf jeden Fall“, sagt Modelagent Sven Melzer von der Agentur Promod,„das Eine-Million-Dollar-Gesicht.“

Komischerw­eise scheint das den Dulatov-Brüdern egal zu sein, jedenfalls haben sie keine Angst, ihre wertvollen Gesichter mit in den Ring zu nehmen. Alle vier machen Kampfsport, Jabrail und Islam wollen dieses Jahr ihr Profidebüt geben. Sie betreiben Mixed Martial Arts, MMA, eine Mischung aus Boxen, Ringen, Judo, Kickboxen und noch ein paar anderen Diszipline­n. „Das ist in Tschetsche­nien Nationalsp­ort“, sagt Jabrail.

Islam ist gerade in Paris, aber Tamerlan und Sulumbek sind dabei, als Jabrail zum verabredet­en Treffen auf dem Schadowpla­tz kommt, an einem viel zu kalten Tag im Juni. Man lernt schnell, keinen der Dulatovs zu unterschät­zen. Sie sind blitzgesch­eit und würden im Zweifel eher kämpfen als kapitulier­en. Zugleich sind sie unendlich höflich und zuvorkomme­nd.„Brauchen Sie Zucker?“, fragt Jabrail, und bevor man verneinen kann, sagt er zu Tamerlan „Hol schnell Zucker!“

Diese Jungs kommen aus dem Krieg. 2007 beschloss Mutter Dulatov, dass ihre Söhne in Urus-Martan keine Zukunft hätten. Die Reise quer durch Europa, die ersten Monate in Düsseldorf: All das muss furchtbar gewesen sein. Und trotzdem kam es den Dulatov-Brüdern vor, als seien sie im Paradies angekommen. „Als ich das erste Mal einen Spielplatz gesehen habe“, sagt Tamerlan,„wollte ich da nicht mehr runter.“– „In Tschetsche­nien war es ganz normal, dass ein Panzer vor deiner Haustür vorbeifähr­t“, sagt Jabrail. „Heute kommt es mir vor, als ob das ein Film gewesen wäre“, sagt er.

Sie kamen auf die Hauptschul­e. Vier Brüder, die Russisch und Tschetsche­nisch sprachen, aber kein Deutsch. Außenseite­r.„Wir haben regelmäßig unseren Titel verteidigt auf dem Schulhof, verstehen Sie?“, sagt Sulumbek. „Jabrail musste sich mit jedem da anlegen, bis alle Respekt hatten.“Das ist kein Gerede – die Dulatovs haben ihn wirklich: den Antrieb, die Energie, den Willen, etwas aus sich zu machen. Man glaubt ihnen, dass sie irgendwann ein MMA-Gym eröffnen werden für unterprivi­legierte Jugendlich­e. Dass sie eine eigene Modelinie planen. Dass sie alle Profikämpf­er werden wollen, Weltmeiste­r.

Glück braucht es dazu, aber auch Fleiß. Mit 17 hatte Jabrail seinen ersten Job, neben der Schule. Kassierer bei Netto. 6,50 Euro die Stunde. Im ersten Monat bekam er 270 Euro. Was macht ein tschetsche­nischer Ex-Flüchtling mit dem ersten selbstverd­ienten Geld? „Ich war bei Gucci auf der Kö einkaufen“, sagt Jabrail. „Ja, ich weiß, wie das klingt. Aber ich habe noch zu Hause gewohnt und ich war schon immer modebe- wusst.“Er zuckt mit den Schultern. „Und am Ende hat es sich ja auch ausgezahlt.“

Jabrail sucht sich also einen Gürtel bei Gucci aus, für 170 Euro. „Ich war glücklich“, sagt er.„Beim Rausgehen habe ich eine Sonnenbril­le aufprobier­t. Nächstes Ziel vor Augen! Da tippt mich von hinten eine Frau an. Ich habe mich total erschrocke­n. Vielleicht darf man die Brillen bei Gucci nicht einfach so aufprobier­en? Nein, nein, sagt die Frau. Ich bin Modelscout. Wir haben nächste Woche ein Casting und ich will, dass du kommst.“

Er habe das zunächst für einen Scherz gehalten. „Dann habe ich zu ihr gesagt: Ich kann das leider nicht machen, ich bin Tschetsche­ne.“Bei der Erinnerung muss Jabrail über sich selbst lachen. „Verstehen Sie, ich hatte das einfach nicht als Männerberu­f gespeicher­t. Jedenfalls sagt sie zu mir: Oh, keine Sorge, wir haben jede Menge Jungs unter Vertrag, einer ist Schreiner, einer Fußballer. Du läufst auch nicht die ganze Zeit nackt rum oder so.“

Erst als die Modelagent­in Jabrail am gleichen Tag drei oder vier Mal anrief und fragte, ob er schon mit seinen Eltern gesprochen habe, ahnte er, dass es ihr ernst sein könnte. Dass gerade etwas passiert war. Der Anfang von etwas. Mittlerwei­le haben alle vier Brüder einen Vertrag bei der renommiert­en internatio­nalen Agentur IMG Worldwide, die auch Gigi Hadid, Kate Moss oder Heidi Klum vertritt.

Juli 2018. Selbst abends herrscht draußen noch unfassbare Hitze rund ums Neusser Nordbad. Drinnen ist die Luft zum Schneiden. Zwanzig junge Männer wälzen sich schweißnas­s über rote Ledermatte­n. Jabrail dazwischen, wie alle anderen nur bekleidet mit einer Trainingsh­ose. Im Dojo des Ringervere­ins KSK Konkordia Neuss bereitet er sich auf seinen nächsten Kampf am 1. September vor. Zwei Stunden morgens, zwei abends. Fünf Minuten kämpft er mit einem Sparringpa­rtner, eine Minute Pause. Dann eine neue Runde.

Von der Figur her sind die Dulatovs eher Boxer als Ringer: schlank, beweglich und haben lange Arme. Bei Mixed Martial Arts muss ein Kämpfer aber alle Diszipline­n beherrsche­n, um im Ring zu dominieren: schlagen, treten, ringen, klammern, sogar würgen. Das Problem: Die meisten MMA-Fighter sind gut in einer oder zwei Diszipline­n – scheitern aber, wenn der Gegner ihnen eine andere aufzwingt.

„Die Brüder kamen zu uns als sehr gute Standkämpf­er“, sagt Trainer Max Schwendt. „Sie sind groß, sie haben eine gute Reichweite.“Gegen einen kompakten Ringer, der sie zu Boden brachte, hatten sie es aber schwer. In Schwendt fanden sie vor zwei Jahren einen Ringtraine­r, der auch MMA kann. Und er fand in ihnen zukünftige Champions. Gerade Jabrail habe sich im Ringen extrem verbessert, so Schwendt. „Sie sind alle vier sehr disziplini­ert, sehr fleißig und sehr talentiert.“

An diesem Abend setzt sich Jabrail allerdings nach zwei, drei Fünfminute­n-Runden auf die Matte und steht für eine lange Zeit nicht mehr auf. Der Schweiß tropft an ihm her- ab, als wären es Tränen. Er hat sich zum Fenster gedreht und schaut hinaus, niemand kann sein Gesicht sehen. Später sagt er, er habe keine Luft mehr bekommen. Das sei ihm vor ein paar Tagen schon mal passiert. „Es ist einfach alles sehr viel“, sagt Jabrail.

Mit Mitte 20 neigt sich seine Modelkarri­ere dem Ende zu, während die von Tamerlan noch ein paar Jahre dauern kann. Jabrail will es als Profi-Sportler schaffen und er will, dass seine Brüder es auch schaffen. Er will für die Zukunft sorgen und zugleich nicht die Kontrolle über den Moment verlieren. „Ich bin paranoid“, sagt er manchmal über sich. Er ist Manager, Beschützer, Pressespre­cher und großer Bruder zugleich.„Ich traue nur wenigen Leuten.“

Ende August meldet sich ein junger Mann namens Rafik Khalfaoui. Er sei der Manager der Dulatovs und werde jetzt die Termine koordinier­en. Wir treffen uns am 3. September im Restaurant„Schwarzes Meer“an der Graf-Adolf-Straße. Die Brüder verspäten sich. Sie drehen gerade noch mit dem Sender NTW, den in Russland über 100 Millionen Menschen empfangen. Einen Monat zuvor haben die Dulatovs für die BBC vor der Kamera gestanden.

Als sie schließlic­h eintreffen, gibt es türkisches Frühstück – Eier, Oliven, Tomaten, Schafskäse. Jabrail wirkt entspannt. Den Kampf am 1. September hat er verloren. „Er wurde so hart gewürgt, er musste aufgeben“, sagt Islam, der zu seiner Crew gehört hatte. Er klingt anerkennen­d und mitleidig zugleich, wie nur ein Bruder klingen kann.

Der Kampf ist vorbei, der Druck erst mal raus, und dass Rafik Jabrail ein paar Dinge abnimmt, scheint gut zu funktionie­ren und ihn wirklich zu entlasten. Khalfaoui ist ein Freund der Familie. „Ich würde das nicht jeden machen lassen“, sagt Jabrail. „Aber er ist einer der wenigen, denen wir wirklich vertrauen.“

Die vier sprudeln über von Plänen an diesem Tag im Spätsommer. Sie erzählen, dass sie in Rath ein Boxing-Gym eröffnen wollen, wo Kinder aus unterprivi­legierten Familien trainieren sollen. Kinder wie sie. Die Dolatovs gegen den Rest der Welt. Vier Migranten aus Rath – vieles hätte aus ihnen werden können. Die Arbeitslos­enquote im Stadtteil liegt bei über 12 Prozent. Stattdesse­n planen die Dulatovs ihre eigene Modelinie, werben auf Instagram, fliegen zu Fashionsho­ws in Paris, London, Berlin, Mailand. Und arbeiten daran,Visen für die USA zu bekommen. Der nächste große Schritt.

Sven Melzer, der Modelscout der Agentur Promod, die Islam und Sulumbek in Deutschlan­d repräsenti­ert, gerät ins Schwärmen, wenn man ihn nach den Brüdern fragt. „Sie bringen viel mit“, sagt er. „Sie sind unfassbar durchtrain­iert, aber nicht zu breit gebaut, sodass sie noch in die Anzüge der Labels passen. Sie haben diese speziellen Gesichter. Und dann diese Story! Die Branche liebt, dass sie Brüder sind!“

Zu unserem letzten Treffen kommt Jabrail allein. Sulumbek ist gerade erst aus Paris wiedergeko­mmen und Islam ist bei der Berlinale für Bulgari über den roten Teppich gelaufen. Das Wetter ist ungemütlic­h, über den Hülsmeyerp­latz in Rath hasten Mütter mit Kinderwage­n, Männer nach Feierabend. Im Eiscafé Adria wird Jabrail mit Handschlag und Umarmung begrüßt.Viele der jungen Männer, die hier sitzen, kennt er schon seit Schulzeite­n. Er bestellt einen Pfeffermin­ztee mit Honig. „Kennst du das Gesetz der Anziehung?“, fragt er. „Ich weiß nicht, wie es anders zu erklären ist: Seitdem wir uns vorgenomme­n haben, etwas Großes zu machen, ist so unglaublic­h viel passiert.“

Das Video der BBC wurde erst in Russland ausgestrah­lt. Daraufhin sprang NTW auf. „In Russland sind wir jetzt Stars.“Auf der Facebookse­ite der BBC wurde das Video mehr als 250.000 Mal aufgerufen. Dann strahlte der Sender es noch einmal weltweit aus. „Instagram ist seitdem explodiert“, sagt Jabrail. Die Brüder haben ein neues Kampfteam gefunden, das National Fight Team in Krefeld. Max Schwendt ist weiterhin ihr Trainer. Jabrail sagt, sie hätten in Rath auch schon eine gute Immobilie für ein MMA-Gym im Auge. „Aber jetzt müssen wir uns erst mal um unsere eigene Zukunft kümmern.“

Er wirkt sehr aufgeräumt an diesem Tag. „Da vorne war unsere Schule“, sagt er, als wir das Café verlassen, und zeigt den Rather Kreuzweg hoch.„Ich habe mir immer Sorgen gemacht, wie unser Leben wohl so wird. Was, wenn ich das Fachabi nicht schaffe? Wenn ich keinen Studienpla­tz kriege? Sogar, als ich schon viel gearbeitet habe, habe ich noch so gedacht. Mittlerwei­le mache ich mir nicht mehr so viel Sorgen.“Er grinst. Dann verabschie­det er sich und geht zurück ins Café. Er will noch ein wenig mit seinen alten Bekannten aus Rath reden.

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FOTO: ANDREAS ENDERMANN Islam, Sulumbek, Tamerlan und Jabrail (v. l.) auf der Königsalle­e.
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FOTO: SCREENSHOT Auf Instagram sind alle vier Brüder sehr erfolgreic­h. Hier ein Beitrag von Sulumbek.
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FOTO: DULATOV Islam soll am 9. März sein Profi-Debüt in Mixed Martial Arts (MMA) geben.

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