Cambridge 5 – Zeit der Verräter
Genau hier hatten sich Burgess und Maclean im Mai 1951 zu dem entscheidenden Mittagessen getroffen. Wera setzte sich auf die Treppenstufen des Clubs und holte ihren Laptop aus der Computertasche. Sie wollte ein paar Sätze über den Reform Club in ihr Burgess-Kapitel einbauen.
Flucht
Im August 1950 war Burgess an die britische Botschaft in Washington versetzt worden. Seine Vorgesetzten im Foreign Office hatten ihm signalisiert, dass dies seine endgültig letzte Chance wäre. Kurz zuvor hatte er im angetrunkenen Zustand einen Mann zu Tode gefahren und einen Kollegen krankenhausreif geschlagen. Der Kollege hatte den Fehler begangen, sich positiv über die Amerikaner zu äußern, was Burgess so in Rage versetzt hatte, dass er nicht mehr hatte aufhören können, auf ihn einzuschlagen. Ein Grund für seine Wut war – abgesehen von seinem Alkoholismus – der Beginn des Koreakrieges. Burgess machte die Amerikaner für den Krieg verantwortlich und teilte jedem, der es hören wollte, mit, dass die USA ein Verbrecherland wären. Anfangs konnten seine Ausfälle noch vertuscht werden, aber die Beschwerden über Burgess‘ Benehmen rissen nicht ab. Es war offensichtlich, dass er London verlassen musste.
Ihn ausgerechnet nach Washington zu versetzen schien jedoch eine bizarre Entscheidung zu sein. Niemand verstand, warum ein lautstarker Antiamerikaner wie Burgess ausgerechnet jetzt in die USA geschickt wurde. War dies von seinen Vorge- setzten als humorvolle oder als zutiefst sadistische Entscheidung gedacht?
Antiamerikanismus hatte zwar in Großbritannien in linken wie in rechten Kreisen eine lange Tradition, aber von einem Berufsdiplomaten erwartete man dann doch, seine persönlichen Antipathien zu drosseln. Burgess erlegte sich derartige Hemmungen nicht auf, und wie die meisten seiner Freunde vorausgesagt hatten, verlief das „Burgess-geht-nach-Washington-Experiment“von Anfang an negativ.
Philby war mittlerweile in Washington gut etabliert. In seinen Memoiren erzählt er, wie er 1950 einen Brief von Guy Burgess erhielt, der mit dem Satz begann:
„Ich habe schlechte Nachrichten für dich, ich bin gerade nach Washington versetzt worden.“Burgess bat dann im nächsten Satz, ein paar Wochen bei Philby und seiner Familie in der Washingtoner Nebraska Avenue wohnen zu dürfen. Noch Jahre später bereute Philby, ihm diese Bitte erfüllt zu haben.
Ein Grund für Philbys Entscheidung, Guy Burgess in seinem Washingtoner Haus aufzunehmen, waren Guys „persönliche Probleme“. In seinen Memoiren schrieb er darüber:
„Bei mir konnte er viel weniger Dummheiten machen als in einer Junggesellenwohnung, wo er sich jeden Abend austoben konnte.“
Doch ganz egal in was für einem schlechten mentalen Zustand Burgess sich befand, der KGB konnte sich für die Idee der „Wohngemeinschaft“überhaupt nicht begeistern.
Die Situation muss die Russen an die späten 1930er-Jahre erinnert haben, als Burgess mit Blunt und Philby in Rothschilds Haus in London Partys gefeiert hatte. Es war ein gefährliches Experiment, diese Wohngemeinschaft wieder aufleben zu lassen. Burgess‘ amerikanische Wohnungswahl verärgerte nicht nur den KGB, sie stürzte auch Philbys Familie ins Chaos.
Sobald Burgess angekommen war, gab es Probleme. Zum Frühstück erschien er selten und wenn, dann schwer ramponiert. Er trank schon tagsüber und zog dann durch die Washingtoner Schwulenszene. Die Ehe der Philbys galt zu diesem Zeitpunkt bereits als äußerst fragil, und Burgess schien besonderen Spaß daran zu haben, die Situation noch zu verschlimmern. Es überrascht daher nicht, dass Aileen Philby ihren unberechenbaren Hausgast zu hassen begann. Die Kriegsgeneration trank zwar Unmengen von Alkohol, und Mrs. Philby war in dieser Hinsicht einiges gewöhnt (sie selbst entwickelte im Laufe der Jahre ein schweres Alkoholproblem), aber Burgess verletzte sie auf eine andere Art. Er schien eine besondere Nähe zu ihrem Mann zu haben, und er demonstrierte ihr diese Nähe jeden Tag. Kim, der nie Zeit für seine Frau hatte, schien sich Burgess gegenüber zu öffnen, wie er sich ihr nie geöffnet hatte. Die beiden Männer verschwanden zusammen auf stundenlangen Autofahrten und schlossen alle aus ihren Gesprächen aus. Abgesehen davon machte Mrs. Philby sich wohl auch Sorgen darüber, welches Vorbild Burgess ihren Kindern bot. Sie wäre sicher noch wütender gewesen, wenn sie gewusst hätte, dass Burgess seinen KGB-Revolver unter dem Bett ihres ältesten Sohnes John versteckt hatte. John würde sich später nur noch daran erinnern, dass Burgess stark nach Knoblauch roch und nikotin- gelbe Fingernägel hatte, an denen er ständig kaute. Nachdem Burgess bei den Philbys eingezogen war, hatte Aileen plötzlich immer häufiger merkwürdige Unfälle. Philbys Freunde kamen zu dem Schluss, dass sie diese Unfälle selbst verursacht haben musste, um Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Diese Erklärung klang insofern logisch, als sie die Aufmerksamkeit ihres Mannes zu diesem Zeitpunkt restlos verloren hatte. Ihre Geschichte schien also dem klassischen Muster zu entsprechen - Ehemann vernachlässigt mit den Jahren langweilig gewordene Ehefrau, Ehefrau reagiert hysterisch. So weit, so vertraut. Bis auf einen wichtigen Punkt: Die langweilige Ehefrau wusste eine Menge über ihren Ehemann, und sie war auf keinen Fall so diskret wie ihre Vorgängerin, die verschwiegene Litzi. Ganz im Gegenteil. Aileen machte immer häufiger Szenen, und es bestand die Gefahr, dass sie eines Tages Burgess bei seinen Vorgesetzten anschwärzen würde. Sie hätte allen Grund dafür gehabt, sich über ihn zu beschweren. Burgess zeigte seine Verachtung gegenüber Aileen mehr als deutlich. Er stand Frauen allgemein ambivalent gegenüber, besonders gegen Amerikanerinnen empfand er eine tiefe Aversion. Da er nun in Amerika lebte, wurde auch das zu einem ernsthaften Problem.
Ein Prototyp der amerikanischen Frau, den er nicht ausstehen konnte, war Libby Harvey. Libby war eine Washingtoner Gastgeberin und die Ehefrau des CIA-Gegenspionageexperten Bill Harvey. Sich Libby zum Feind zu machen war ausgesprochen unklug. Und genau diesen Fehler beging Burgess.
(Fortsetzung folgt)