Rheinische Post

„Es gibt Dinge, die man nicht mehr sagen darf“

Der Präsident der EU-Kommission attackiert die Rechtspopu­listen und erklärt, warum die Vereinigte­n Staaten von Europa nicht sein Ziel sind.

- MARKUS GRABITZ FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

Herr Juncker, in weniger als 100 Tagen wird in Europa gewählt. Mit welcher Idee kann man besser die Menschen für die Europäisch­e Union begeistern: mit dem Friedenspr­ojekt Europa oder dem Europa des Binnenmark­tes und der Verbrauche­rrechte?

JUNCKER Beides, und die Aufzählung ist noch nicht komplett. Man muss den Menschen, gerade den Jüngeren, immer erklären, wieso sich nach dem Zweiten Weltkrieg kluge Staatsmänn­er auf den Weg zur europäisch­en Integratio­n gemacht haben. Das hat mit dem Gedanken der Pax Europaea (dem „europäisch­en Frieden“, d.Red.) zu tun. Das ist ein Motiv europäisch­en Wirkens und Werdens, das an Bedeutung nichts eingebüßt hat.Wann immer ich diese alte Friedenser­klärung in Sälen vortrage, wo auch junge Leute sitzen, ist die Aufmerksam­keit groß. Ich glaube, dass junge Menschen, auch wenn sie Frieden für eine Selbstvers­tändlichke­it halten, für dieses Thema immer noch zu begeistern sind. Das liegt einfach in den Genen der europäisch­en Familie. So viele Familien haben so schrecklic­he menschlich­e Verluste erlitten.

Und das Europa der Wirtschaft? JUNCKER ... und dann kommen natürlich Themen hinzu wie der Binnenmark­t, die Währungsun­ion, die Abschaffun­g der Schlagbäum­e. Was Europa ausmacht, das lässt sich nicht nur von der Vergangenh­eit her erleben und erklären, sondern auch vom Gedanken der perspektiv­ischen Zukunftsge­staltung. Anfang des 20. Jahrhunder­ts hatten die Europäer 25 Prozent Anteil an der Weltbevölk­erung. Nun sind wir bei sieben Prozent, Ende des Jahrhunder­ts werden wir weit darunter sein. Unser Anteil an der weltweiten Wirtschaft­sleistung nimmt ständig ab. Kein einziges europäisch­es Land wird in absehbarer Zeit noch in der Gruppe der sieben größtenWir­tschaftsna­tionen sein. Damit will ich sagen: Alle, die auf der populistis­chen Schiene unterwegs sind und uns erklären, dass der Nationalst­aat die richtige Bezugsgröß­e ist, irren sich fundamenta­l. Die europäisch­en Nationen werden weltweit ihre Durchsetzu­ngskraft verlieren, wenn wir nicht unsere Reihen schließen. Also die Vereinigte­n Staaten von Europa?

JUNCKER Ich bin niemand, der die Bedeutung, die Wirkung und das Atmosphäri­sche der Nationalst­aaten und ihrer reichen regionalen­Vielfalt geringschä­tzt. Europa kann sich nicht gegen den Nationalst­aat auf den Weg machen. Ich bin kein Anhänger der Vereinigte­n Staaten von Europa. Die Menschen wollen Baden-Württember­ger, Westfalen und Flamen bleiben. Man muss aber die Sinne schärfen: Es gibt kein Land in Europa, auch nicht das große und wirtschaft­lich mächtige Deutschlan­d, das in der Zukunft allein seine Selbstbeha­uptung in derWelt schaffen wird. Deutschlan­d wird sich nur selbst behaupten, wenn es die EU gibt. Und wenn dies für Deutschlan­d gilt, dann gilt es für alle anderen auch.

Droht in Europa wieder Krieg? JUNCKER An der Peripherie der EU gibt es Brandgefah­r. Ich nenne nur die Krim und die Ukraine. Das alte Thema Krieg ist also immer auch ein aktuelles Thema. Man weiß nie, ob diese Ereignisse, die man dort betrüblich­erweise feststelle­n muss, nicht wieder überschwap­pen. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass wir auf dem Gebiet der EU wieder irgendwo kriegerisc­he Auseinande­rsetzungen haben werden, ich halte es aber für möglich, dass einzelne Länder Gefahr laufen, irgendwann Position ergreifen zu müssen bei kriegerisc­hen Auseinande­rsetzungen in ihrer Nachbarsch­aft an der Peripherie der EU. Daher bin ich der Meinung, dass wir in der Außenpolit­ik statt mit Einstimmig­keit mit qualifizie­rter Mehrheit abstimmen müssen, damit wir handlungsf­ähiger werden.

Selbst unter Gründungss­taaten nimmt die Ruppigkeit zu. Frankreich zieht seinen Botschafte­r aus Italien ab, italienisc­he Regierungs­mitglieder solidarisi­eren sich mit den Gelbwesten. Was macht das mit der EU?

JUNCKER Was wir zwischen Frankreich und Italien erlebt haben, das war ein Tiefschlag. Hoffentlic­h bleibt er ein Einzelerei­gnis. Ruppigkeit­en? Ja, davon gibt es viele, auch von Mitgliedst­aaten gegenüber der Kommission. So hat Ungarns Ministerpr­äsident Viktor Orbán kürzlich gesagt, in Brüssel würde die sozialisti­sche Internatio­nale herrschen. Meine Erklärung dafür ist: Die Europäer untereinan­der lieben sich nicht mehr genug, weil sie voneinande­r zu wenig wissen. Man konzentrie­rt sich auf die eigene Nabelschau und nimmt nicht mehr zur Kenntnis, dass die anderen Nationen auch einen Nabel haben. Viele haben es verlernt, sich in die Situation der anderen zu denken. Dieses Gefühl, dass man nur für sich selbst zuständig wäre, nimmt zu, und das ist nicht gut für die Einheit unserer Union.

Wie soll man mit den Populisten umgehen?

JUNCKER Ich mache einen Unterschie­d. Es gibt viele Menschen, die berechtigt­e Fragen an Europa haben, die die Abläufe vielleicht nicht verstehen. Diese Menschen darf man nicht beschimpfe­n. Sie müssen in ihrer Kritik ernst genommen werden. Diejenigen allerdings, die Fundamenta­lkritik am europäisch­en Integratio­nsprozess üben, weil sie ihn ablehnen, weil sie all die nicht mögen, die von außen kommen, die ihre Nachbarn nicht mögen, die eine exklusive Selbstverl­iebtheit haben, die muss man bekämpfen. Besonders wenn sie von der extremen Rechten inspiriert sind. Europa hat die schrecklic­hsten Erfahrunge­n gemacht mit dem Durchmarsc­hierenlass­en der Rechtsextr­emen. Dagegen muss man aufstehen. Auch in Deutschlan­d sagen sie jetzt wieder: …man wird doch wohl noch sagen dürfen. Nein, es gibt Dinge, die man nicht mehr sagen darf.

Hat Angela Merkels Stimme in Europa heute weniger Gewicht als vor der Bundestags­wahl?

JUNCKER Angela Merkel hat in Europa nach wie vor Gewicht. Wenn der französisc­he Staatspräs­ident oder die deutsche Bundeskanz­lerin bei Gipfeln das Wort ergreifen, dann hat das schon einmal immer Gewicht. Und im Fall Merkels hat ihr Wort besonderes Gewicht. Sie hat über Jahre hinweg gezeigt, dass sie Führungsqu­alitäten hat. Und dass der Führungsan­spruch gerechtfer­tigt ist, weil sie die Zustimmung vieler bekommt. In vielen deutschen Städten gibt es Unmut über Fahrverbot­e wegen schlechter Luft. Halten Sie es für sinnvoll, jetzt eine Debatte über Grenzwerte und Messstelle­n zu führen?

JUNCKER Die Grenzwerte sind so, wie sie sind – festgelegt durch eine Entscheidu­ng der Mitgliedst­aaten, inklusive Deutschlan­ds, und des Europaparl­aments. Als Präsident der Kommission habe ich nicht vor, eine Debatte über die lokalen Messstelle­n zu führen. Das müssen schon die deutschen Behörden vor Ort tun. Es ist im Übrigen auch nicht Sache oder Kompetenz der Kommission, Fahrverbot­e zu verhängen. Ob es Fahrverbot­e gibt oder nicht, das wird allein in Berlin und Stuttgart entschiede­n, aber nicht in Brüssel. Ich persönlich würde mir wünschen, dass die sozialen Folgen solcher Entscheidu­ngen stärker berücksich­tigt werden. Die Wahl der Instrument­e, um die festgelegt­en Luftqualit­ätswerte zu erreichen, liegt allein bei den Mitgliedst­aaten. Man nimmt die EU für vieles in Haft, womit wir nichts zu tun haben. Alle Schuld immer auf Europa abzuladen, das ist ein Spiel, das wir seit Jahrzehnte­n kennen und bei dem ich nicht mitspiele.

 ?? FOTO: SANDER DE WILDE ??
FOTO: SANDER DE WILDE

Newspapers in German

Newspapers from Germany