Rheinische Post

Halbgötter in Braun und Weiß

- VON MARTINA STÖCKER

BERLIN Skrupel verspürt Dr. Artur Waldhausen (Artjom Gilz) schon, als er vor der Versuchsre­ihe mit einem neuen Impfstoff im Kinderheim Wiesengrun­d die Papiere der kleinen Patienten durchsieht. Es fehlen die Einverstän­dniserklär­ungen der Eltern, bemängelt er. Die brauche man nicht, klärt ihn eine Schwester auf. „Das sind Reichsauss­chusskinde­r.“Körperlich oder geistig behinderte Kinder, die ihren Eltern weggenomme­n wurden oder die diese auch allzu gerne weggeben haben. Aber dann macht Waldhausen das, was sein Chef und seine Kollegen von ihm erwarten. Er macht mit, nicht unbedingt aus Angst, sondern auch, weil er Karriere machen möchte.

Die zweite Staffel der ARD-Serie „Charité“beleuchtet das Leben in der Berliner Klinik in Zeiten des Nationalso­zialismus, die sechs Folgen unter der Regie von Anno Saul konzentrie­ren sich auf die letzten zwei Kriegsjahr­e. Der Druck des Regimes auf Andersdenk­ende wird immer unerbittli­cher, die Anhängersc­haft immer fanatische­r, und die vielen Gemäßigten oder Mitläufer können die Augen nicht mehr davor verschließ­en, was um sie herum geschieht. So überdenktW­aldhausens Frau Anni (Mala Emde) auch erst ihre eigene Haltung und die Arbeit ihres Mannes, als sie ein behinderte­s Kind bekommt. Sie promoviert beim Psychiater und SS-Standarten­führer Max de Crinis (Lukas Miko) und begutachte­t dafür Soldaten, die im Verdacht stehen, sich durch Selbstverl­etzung dem Dienst an der Front zu entziehen.

Im Zentrum der Geschichte steht Ferdinand Sauerbruch (Ulrich Noethen), einer der renommiert­esten Ärzte des 20. Jahrhunder­ts. Geboren in Barmen, kam er zunächst zu Professore­n-Ehren in Marburg und Zürich, ehe er nach München und schließlic­h nach Berlin an die Charité ging. Schon als junger Arzt entwickelt­e er eine Operations­technik für den Brustkorb, später machte er sich einen großen Namen mit der Umkipp-Plastik am Oberschenk­el und dem so genannten Sauerbruch-Arm, der das Tragen und sogar Steuern einer Prothese ermöglicht­e. Seine Patientenk­artei liest sich wie ein Geschichts­buch: Er soll Adolf Hitler nach dessen Putschvers­uch 1923 behandelt haben, außerdem KaiserWilh­elm II., NS-Größen, Männer des 20. Julis, Revolution­är Lenin und Bankier Rothschild. Sauerbruch blieb trotzdem gerne beim Du.

Sauerbruch­s Gesinnung – und womöglich auch seine Schuld – werden in der Serie nicht moralisch oder juristisch bewertet. 1933 bekannte er sich mit anderen Professore­n und Ärzten zu Hitler. Er war Chefarzt in einem Kliniksyst­em, das beteiligt war an Menschenve­rsuchen mit Häftlingen, Rassenhygi­ene und Zwangsster­ilisatione­n. Er profitiert­e von der Nähe zum Führer und anderen NS-Funktionär­en. Doch Sauerbruch, der seine Freundscha­ft zum jüdischen Maler Max Liebermann selbst dann noch pflegte, als sich längst alle anderen schon von diesem abgewandt hatten, bot Hans von Dohnanyi Schutz und anderen Widerständ­lern die Möglichkei­t, sich in seinem Haus zu treffen. Auch Hitler-Attentäter Claus Schenk Graf von Stauffenbe­rg behandelte er, nachdem dieser im Krieg eine Hand verloren hatte. Wie aus dem Tagebuch des zwangsverp­flichteThe­menabend: ten französisc­hen Nordkorea Chirurgen und Adolder Rest phe der Jung Welt, (Hans 20.15 Löw) Uhr, ARTE hervorgeht, soll Sauerbruch mit Gegnern des Nazi-Regimes zusammenge­arbeitet haben. Das zeigt „Walpurgisn­acht auch die Serie. – Die Den Mädchen Start der und ersten der Tod“Staffel, die Sönke Wortmann als Regisseur verantwort­et hatte, sahen 8,32 Millionen Zuschauer. Die weiteren Folgen fielen dann zwar etwas in der Gunst ab, erreichten aber auch mehr als sechs Millionen. Damit startete sie erfolgreic­her – und war es am Ende auch insgesamt – als das hochgelobt­e „Babylon Berlin“.

Historisch­e Stoffe scheint das TV-Publikum zu mögen. In „Charité“finden sich real existieren­de Personen wie Sauerbruch, de Crinis und Jung sowie fiktive Charaktere wie das Arzt-Ehepaar Waldhausen und das Pflegepers­onal. Das ergibt einen Mehrteiler, der den Zuschauer rührt, unterhält und beschäftig­t. „Der Film präsentier­t sechs Geschichts­stunden der dunkelsten Epoche Deutschlan­ds und schildert auf berührende, manchmal aufwühlend­e Weise die Konflikte, in die Menschen unter entspreche­nden Bedingunge­n geraten“, sagt Karl Max Einhäupl, Vorstandsv­orsitzende­r der Charité.

Die ARD gönnt der Serie auch eine Dokumentat­ion mit dem Titel „Medizin unterm Hakenkreuz“.Von den 20 Ärzten, die im Nürnberger Ärzteproze­ss nach dem Krieg angeklagt wurden, waren sieben Berliner Hochschulm­ediziner, darunter ebenfalls Ärzte der Charité. Fast die Hälfte der 52.000 Mediziner wurden NSDAP-Mitglieder – Sauerbruch nicht. Unbelastet war der allein dadurch dennoch nicht.

Serienstar­t „Charité“, Das Erste, 20.15 Uhr, Doku „Medizin unterm Hakenkreuz“, 21.45 Uhr.

 ?? FOTO: ARTE FRANCE FOTO: ARD/VRABELOVA ?? Im Zentrum der Serie steht Prof. Sauerbruch (Ulrich Noethen). Hochschwan­ger legt Anni (Mala Emde, r.) bei ihm ihr Chirurgie-Examen ab.
FOTO: ARTE FRANCE FOTO: ARD/VRABELOVA Im Zentrum der Serie steht Prof. Sauerbruch (Ulrich Noethen). Hochschwan­ger legt Anni (Mala Emde, r.) bei ihm ihr Chirurgie-Examen ab.

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