Der Unterschätzte
Klaus Kinkel ist gestorben. Er war Ziehsohn des Rekord-Außenministers Hans-Dietrich Genscher und prägte eine Umbruchzeit.
BERLIN Er war schon in den Kulissen der Bundespolitik aktiv, als Willy Brandt 1974 in den Rücktritt getrieben wurde. Ein heikles Dossier der Nachrichtendienste hatte er persönlich dem beliebten Kanzler nahezubringen, dessen enger Mitarbeiter Günter Guillaume als DDR-Agent aufgeflogen war. Damals war die FDP an der Seite der SPD in der Bundesregierung. Aber der junge Jurist Klaus Kinkel gehörte noch nicht der Partei an, deren Chef er später werden würde. Jedoch war der damalige Innenminister Hans-Dietrich Genscher, ein Liberaler, auf Kinkel längst aufmerksam geworden, hatte ihn zu seinem Büroleiter gemacht, ihn dann beim Wechsel ins Auswärtige Amt mitgenommen. Dort wurde er Chef der Leitungs-, dann der Planungsabteilung in einer gefährlichen Phase, in der sich am Horizont der Jugoslawien-Krieg abzeichnete.
Zuvor hatte Kinkel bereits als erster Zivilist seit der Gründung den Auslandsnachrichtendienst BND geleitet – von 1979 bis 1982. Es war für einen ruhigen, bedächtig, aber auch fest und entschieden auftretenden Spitzenbeamten wie ihn die ideale Plattform für noch Höheres. Lange galt er als bescheiden. Damit war es jedoch Anfang 1991 vorbei, als er sich auf Geheiß Genschers für die Nachfolge des nach der Bundestagswahl nicht erneut kandidierenden Justizministers Hans A. Engelhard bewarb und in einer Kampfabstimmung die ehrgeizige Irmgard Schwaetzer besiegen musste. Die damals von Machtspielen und Hinterhalten geprägte FDP war damit gespalten in Kinkel-Befürworter und Kinkel-Gegner.
Einstweilen ging es jedoch für den neuen Minister steil bergauf. Ein gutes Jahr später trat er bereits die Nachfolge von Langzeit-Außenminister Genscher an. Und als Anfang 1993 auch Jürgen Möllemann aus dem Kabinett von Helmut Kohl ausschied, rückte Kinkel sogar auf die Position des Vizekanzlers vor. In dieser Funktion wurde er schon bald in einen politischen Spagat getrieben, weil das wiedervereinigte Deutschland nach Jahrzehnten im Windschatten der Geschichte nun mit den Erwartungen derVerbündeten konfrontiert wurde, sich mehr an internationalen Einsätzen zu beteiligen.
Kinkel verteidigte zunächst die Beteiligung von Bundeswehrsoldaten bei der Überwachung des zerbrechenden Jugoslawien. Wer der Bundesregierung vorwerfe, sie strebe damit eine Militarisierung der deutschen Außenpolitik an, der stelle sich gegen die Charta der Vereinten Nationen, meinte Kinkel im Oktober 1992 und warnte vor einer„Diffamierung unserer Partner“. Doch als wenige Monate später der Weltsicherheitsrat dafür votierte, die serbischen Militärbewegungen nicht nur zu überwachen, sondern die Ordnung auf dem Westbalkan auch militärisch durchzusetzen, war es mit der Unterstützung der FDP vorbei.
Um die Koalition nicht zu sprengen, kam die Regierung zu der Lösung, dass die FDP-Minister beim Kabinettsbeschluss nicht anwesend sein sollten und dass die verfassungsrechtliche Zulässigkeit dieser „Out of Area“-Missionen, dieser Einsätze außerhalb des Bündnisgebietes, in Karlsruhe geprüft werden solle. Der inzwischen in die FDP eingetretene Parteipolitiker Kinkel klagte also gegen die Handlungen des Außenministers Kinkel.
Und beide bekamen recht. Das Verfassungsgericht sah 1994 den Einsatz der Bundeswehr als Ausdruck der Mitwirkung Deutschlands in der Nato durch das Grundgesetz als gedeckt an, legte jedoch zugleich fest, dass der Bundestag dem jeweils vorher zuzustimmen habe. Der Balkankonflikt verwandelte sich später in einen Balkankrieg und sollte auch die rot-grüne Nachfolgeregierung bis an den Rand des koalitionären Zusammenhalts belasten. Wesentliche Grundlagen für Deutschlands neue Rolle in der Welt hatte Kinkel in seinen gut sechs Jahren als deutscher Außenminister gelegt. Er spürte wie kaum einer seiner Vorgänger die wachsenden Erwartungen an Deutschland, bemerkte jedoch zugleich immer wieder, wie eng sein Spielraum dabei war. Er sei damals „demütig geworden“, lautete ein zentrales Resümee.
Seine Zeit als FDP-Chef von 1993 bis 1995 war alles andere als seine glücklichste. Er hatte mit einer Serie von Landtagswahlniederlagen zu kämpfen, die auch auf das ständige parteiinterne Hauen und Stechen zurückzuführen waren und letztlich in den Machtverlust der Liberalen an der Seite der Kohl-CDU mündeten. Da aber hatte Kinkel den Staffelstab längst an Wolfgang Gerhardt weitergegeben. Dem Bundestag blieb Kinkel noch bis 2002 erhalten. Danach arbeitete er eine Weile als Rechtsanwalt und war immer wieder auch als Mahner in den Entwicklungen der Weltpolitik zu hören, zuletzt als vehementer Kritiker des Kurses von US-Präsident Donald Trump. 82-jährig ist Kinkel nun in Sankt Augustin gestorben.