Rheinische Post

Frankreich­s Juden in Bedrängnis

Die Zahl der antisemiti­schen Straftaten steigt sprunghaft – nicht nur in Paris, auch in der Provinz. Zwar haben zuletzt Zehntausen­de Franzosen gegen den Hass demonstrie­rt, aber viele Juden haben Angst. Und denken an Auswanderu­ng.

- VON KNUT KROHN

PARIS Moïse Journo lacht laut auf. Die Gäste im Restaurant „Pitzman“in der Rue Pavée recken neugierig die Köpfe und blicken kurz hinüber zu dem Ecktisch. „Wovor soll ich Angst haben?“, fragt Moïse Journo, streicht sich amüsiert durch seinen langen grauen Bart, beugt sich weit über den Tisch und fügt dann sehr leise, fast flüsternd hinzu: „Wir Juden haben die Shoah überlebt, danach hat man keine Angst mehr.“Das sind die Dimensione­n, in denen sich der 70-Jährige mit seinen Gedanken bewegt. Die Tagespolit­ik ist für ihn allenfalls ein interessan­tes Beiwerk des Lebens, das er distanzier­t zur Kenntnis nimmt.

Zu diesem Alltag gehören für Journo auch die antisemiti­schen Anschläge, wie sie im Moment in Frankreich fast täglich Schlagzeil­en machen. „Das hat es immer gegeben“, sagt er und scheint nicht allzu beunruhigt. „Wir alle hier erinnern uns an Ilan Halimi“, sagt er nach einer kurzen, sehr nachdenkli­chen Pause. Der 23-jährige Jude war im Jahr 2006 im Pariser Vorort Sainte-Geneviève-des-Bois verschlepp­t und drei Wochen lang von jungen Muslimen aus der Nachbarsch­aft gefoltert worden. Der junge Mann starb, als er ins Krankenhau­s gebracht wurde.

Allerdings scheint die Welle des Hasses für die knapp 500.000 Juden in Frankreich inzwischen besonders bedrohlich. Innerhalb eines Jahres hat die Zahl antisemiti­scher Angriffe in Frankreich um 74 Prozent auf insgesamt 541 zugenommen. Allein in den vergangene­n Tagen wurden mehrere Attacken gezählt. Die Fenstersch­reiben eines bekannten Restaurant­s in der Hauptstadt wurden mit dem Wort „Juden“beschmiert, der in Frankreich sehr populäre Philosoph Alain Finkielkra­ut wurde am Rande einer Demonstrat­ion der sogenannte­n Gelbwesten in Paris antisemiti­sch beschimpft, und mehrere jüdische Friedhöfe wurden mit Hakenkreuz­en geschändet.

Auch das Denkmal für den ermordeten Ilan Halimi ist zerstört worden. Ein Baum, der zu Ehren des jungen Mannes gepflanzt worden war, wurde kurz vor dessen 13. Todestag abgesägt. „Wir werden noch größere, noch schönere Bäume pflanzen“, kündigte Frankreich­s Innenminis­ter Christophe Castaner als Reaktion auf die Tat an. Francis Kalifat, derVorsitz­ende des Dachverban­des der Juden in Frankreich, warnt angesichts der Entwicklun­g:„Was gestern noch als Extremismu­s gegolten hätte, ist heute schon unspektaku­lär. Die Radikalisi­erung setzt sich fort, im Bereich der Politik ebenso wie im Bereich der Religion.“

Doch viele Franzosen wollen diesen Hass in ihrem Land nicht akzeptiere­n, sie stellen sich der Entwicklun­g entgegen. In den vergangene­n Wochen demonstrie­rten Zehntausen­de Menschen in ganz Frankreich unter dem Motto „Es reicht!“(„Ça suffit!“) gegen Antisemiti­smus. In der Menschenme­nge auf der Place de la République in Paris standen auch Raphaël und Claude. Die beiden jungen Juden blicken nicht mit der distanzier­ten Abgeklärth­eit eines Moïse Journo auf die Vorgänge in Frankreich, dem Land, in dem sie geboren wurden und das sie ihre Heimat nennen.

Moïse Journo würde an dieser Stelle wieder laut auflachen. „Frankreich meine Heimat?“, würde er fragen und sagen: „Meine Heimat ist dieWelt!“Ganz anders Raphaël und Claude. „Was sollen wir tun?“, fragen sie. Diese ständigen Nachrichte­n von antisemiti­schen Ausfällen gehen nicht spurlos an ihnen vorüber – obwohl sie selbst noch nie angegriffe­n oder beleidigt worden sind. An diesem Abend des Protestes tragen sie ihre Kippa, die sie aber meist zu Hause lassen, wenn sie in der Stadt unterwegs sind. „Man weiß nie, was passieren könnte, und ich will nichts provoziere­n“, erklärt Raphaël diese Vorsichtsm­aßnahme. „Wenn wir ehrlich sind, leben wir in einer ständigen Furcht, dass etwas passieren könnte.“Er wolle nicht sagen, dass er wirklich konkrete Angst habe, aber ihn begleite eben ein „seltsames Gefühl“.

Beide geben zu, auch schon daran gedacht zu haben, aus Frankreich auszuwande­rn. Zu Hause in ihren Familien werde das Thema ganz offen diskutiert. „Unsere Eltern unterstütz­en uns dabei, würden aber selbst nie das Land verlassen“, erzählt Raphaël und erinnert sich: „Nach dem fürchterli­chen Anschlägen im Jahr 2015, bei denen in einem jüdischen Supermarkt islamistis­che Geiselnehm­er vier Menschen getötet haben, sind Freunde von mir weggegange­n.“Wenn er seine Heimat Frankreich verlassen würde, wäre sein Ziel aber nicht Israel, räumt Claude ein, er würde nach Kanada auswandern. Jetzt aber mache er erst einmal sein Studium zu Ende, dann werde er weitersehe­n.

Im Pariser Stadtteil Marais, wo viele Juden wohnen und ihre kleinen Geschäfte betreiben, ist von den aktuellen Spannungen auf den ersten Blick nichts zu spüren. Touristen schlendern durch das malerische Viertel, essen in der frühlingsh­aften Sonne Falafel oder eine koschere Pizza, andere stöbern in der „Librairie du Temple“in Büchern über das Judentum, nebenan im Kulturzent­rum trainiert eine Handvoll Kinder Judo. Nach dem Leben in Paris befragt, werden die meisten Ladenbesit­zer allerdings schweigsam. Es sei „etwas schwierig“, heißt es dann wortkarg, aber das sei es für Juden schon immer gewesen. Nein, Angst habe man nicht, aber vorsichtig sei man geworden.

Auch das koschere Restaurant „Pitzman“, in dem Moïse Journo einen großen Teil seiner Tage verbringt, liegt im Marais. Der 70-Jährige ist in der jüdischen Gemeinde eine Institutio­n. Jahrzehnte­lang betrieb er eine Galerie und das Philosophe­n-Café „Die Psalmen“, das zum intellektu­ellen Zentrum der jüdischen Gemeinde in dem Viertel gehörte. Als ihm die Stadt die Konzession entzog, eröffnete er ein neues Restaurant, wo er seinen Gästen weiter Rede und Antwort stand.

Sein Rat scheint gerade in schwierige­n Zeiten sehr gefragt. Immer wieder kommen Leute vorbei, die etwas wissen wollen. Jeder wird von Journo herzlich begrüßt. Dann redet er mit großem Eifer, und wenn die Worte für eine Erklärung nicht reichen, zieht er einen Stift aus seiner Jacke und zeichnet auf dem Papiertisc­htuch vor sich in wilden Strichen die Gedanken auf. In seinen Erzählunge­n holt er gerne sehr weit aus, mäandert von der frühen Geschichte der zwölf Stämme Israels über das dunkle Mittelalte­r mit seiner brutalen Verfolgung der Juden in Frankreich bis in die Gegenwart mit ihrem aufkeimend­en Antisemiti­smus.

„Zugegeben, als Jude ist es ist im Moment schwer zu leben in Frankreich“, räumt Moïse Journo ein. Aber man müsse sich das eben vorstellen wie eine Prüfung, die es für das jüdische Volk zu bestehen gelte. „Wir werden diese Prüfung bestehen“, ist Moïse Journo überzeugt, es sei nicht die erste, und es werde auch nicht die letzte sein.

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FOTO: LAIF 2018 wurde die Holocaust-Überlebend­e Mireille Knoll (85) in ihrer Wohnung in Paris ermordet – „weil sie Jüdin war“, sagte Präsident Macron. Das Bild zeigt die improvisie­rte Gedenkstät­te.

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