Der Mann, ohne den kein Zug fährt
23 Modelleisenbahn-Anlagen stehen noch in deutschen Bahnhöfen, sechs davon in NRW. Michael Hansen kümmert sich um alle. Unterwegs mit einem Mann, der alle drei Monate losfährt, um das alte Deutschland in Stand zu halten – und bisher keinen Nachfolger hat.
KREFELD An einem späten Montagvormittag, es geht auf halb zwölf zu, beschließt Hansen, dass er aufgibt. Nicht für immer, aber für heute. Klaus und er, sie haben alles versucht in der zugigen Halle des Krefelder Hauptbahnhofes, aber sie haben auch noch etwas anderes zu tun. Nach Duisburg müssen sie heute noch, nach Oberhausen und nach Köln, um im Hauptbahnhof zu kontrollieren, ob der Modelleisenbahn-Automat noch läuft. Hansen ist ein Mann, der freundlich gucken kann, aber jetzt ist Gelegenheit für seinen anderen Blick: den eines Arztes bei der Diagnose. Die Sache in Krefeld wird ihn noch den ganzen Tag ärgern. Sie packen zusammen, Werkzeug, Putzzeug, die beschrifteten Tupperdosen mit Klemmen und Schaltern und schieben den Kram mit der Sackkarre zu einem silbernen Mercedes neben dem Bahnhof.
Vier Mal im Jahr bricht Michael Hansen mit Helfer Klaus Mones, einem Rentner, zu einer Tour auf, die es so kein zweites Mal auf der Welt gibt. 5000 Kilometer fahren sie, um alle 23 Modelleisenbahn-Anlagen zu warten, die in deutschen Bahnhöfen stehen. In Dresden und Berlin zum Beispiel, in Ludwigshafen, Köln, Neuss, Düsseldorf und Pforzheim. Hansen arbeitet für die„Werner Ehret & Co KG“. Das Düsseldorfer Unternehmen hat die Anlagen in den 60ern erfunden und trägt bis heute die Verantwortung dafür, dass sie störungsfrei laufen. Neben den Anlagen in den Bahnhöfen hat die Firma nur noch eine weitere, in einem Oldtimer-Zentrum in Düsseldorf.
Duisburg ist ein Klacks. So hat sich Hansen das vorgestellt. Der Automat ist in der Wand untergebracht und nur an der Vorderseite zugänglich. Die Glasscheibe lässt sich unten nach vorne ziehen, Hansen klemmt ein Metallstück zwischen Scheibe und Automat. Der ICE fährt nicht mehr. Während Hansen zum Auto zurückgeht, um einen neuen Triebkopf zu holen, sammelt Mones das Geld ein. Zehn Fahrten kosten einen Euro. Die Münzen landen nach dem Einwurf in zwei oben aufgeschnittenen Benzinkanistern, die auf dem Boden unter der Platte stehen, gleich neben der Technik, Kabel, Schaltungen, Trafos. Er schüttet die Münzen in einen Putzeimer. Ein junger Mann mit Koffer bleibt stehen, schaut auf die Anlage und sagt: „Das ist ja eine Trix-Express-Bahn.“ „Ja“, sagt Mones.
Ein paar Meter weiter stehen drei Zeugen Jehovas und warnen vor Gott weiß was. Hansen tauscht den Triebkopf des ICE aus, alle vier Bahnen schnurren nun wieder durch die Modellbaulandschaft. Hauptsache, es ist kein Motor defekt, denn diese Motoren werden schon lange nicht mehr hergestellt und im Gegensatz zu vielem anderen kann er sie auch nicht in seiner Werkstatt reparieren. Rund 30 Stück hat er noch auf Lager, das reicht noch knapp zwei Jahre. Wie es danach weitergeht, weiß er noch nicht. Die Lokomotiven sind teilweise 30 bis 50 Jahre alt. Hansen hält sich den Rücken. Die wichtigsten Fragen kann er mit „Ja“beantworten: Nimmt der Münzschlitz Geld an? Fahren die Züge? Leuchten die Lichter an der Steuerkonsole? Also weiter.
Oberhausen, 12.50 Uhr. Im Tunnel ist der ICE entgleist. Hansen stemmt die Anlage auf und zieht den Zug aus dem Tunnel. Während Mones die Taubenscheiße auf dem Dach zusammenfegt und die Scheiben wischt, macht Hansen Probefahrten. Er weiß um die Nostalgie, die die Anlage bei Erwachsenen auslöst. Er kennt die Szenen vonVätern, die dort früher mit ihren Vätern an den Scheiben standen und nun mit ihren Kindern. Doch Hansen spürt diese Nostalgie nicht. Er hatte als Kind bloß eine Lego-Eisenbahn, aber lieber hat er mit Carrera gespielt. Hansen fährt nicht mal Bahn. Als er vor 15 Jahren ins Unternehmen kam, hatte das nichts mit den Bahnen zu tun. Gelernt hat er Maschinenschlosser, dann stellte er Glücksspielautomaten auf, und bei Ehrets betreuten sie damals vor allem Glücksspielautomaten. Doch weil das so viel weniger geworden ist, hat Hansen nun vor allem mit Modelleisenbahnen zu tun.
Der ICE fährt wieder, Hansen widmet sich dem Windrad. Das letzte Mal hat er beim Austausch des defekten Getriebes versehentlich einen Flügel abgebrochen. Nun klebt er neue Windradflügel zusammen und bringt sie am Turm an, sie drehen gleich los. Ein Windrad gehört zu den neueren Details der Anlagen, die sonst ein Fantasie-Deutschland zeigen, das kaum über das Jahr 1991 hinausgeht, als die Deutsche Bahn den ICE 1 auf die Strecke setzte. Fachwerkhäuser, Schwimmbäder, Kioske mit Pilzdächern, Hügel, sogar Dampfloks. Ein Best-Of-Kleinstadt-Deutschland, das sich kaum verändert. Das neue
Deutschland ist gleich gegenüber. Im Frisörsalon schneiden Migranten anderen Migranten die Haare.
Doch das Fantasie-Deutschland in den Glaskästen ist bedroht. Den Automaten in Oberhausen haben sie zwar erst vor fünf, sechs Jahren aufgestellt, aber der Trend zeigt in eine andere Richtung. 36 Anlagen hatte das Unternehmen einst in Deutschland, mittlerweile verliert es einen Standort nach dem nächsten.
Nicht weil sich der Betrieb nicht mehr lohnt – das Problem ist, dass die Bahnhofsmanager die Verträge kündigen. Gerade nach Renovierungen dürfen die Anlagen oft nicht mehr zurück.
Seit drei Jahren ist Hansen der einzige Mitarbeiter des Unternehmens. In den Räumen in Düsseldorf-Bilk, in der Werkstatt und in den Büros, sieht es aus, als habe es 1993 einen Probealarm gegeben und seitdem sei niemand zurückgekehrt. Die anderen sind in Rente gegangen oder gestorben. Der alte Ehret lebt auch nicht mehr, sein Sohn ist der Erbe. Hansen ist 60. Ein Nachfolger ist nicht in Sicht.
Gleich 15 Uhr. Auch Köln ist erledigt. Hansen hat ein paar Waggons ausgetauscht, Mones kippt das Geld zusammen. Auf dem Schildchen an der Scheibe steht noch immer Herr Hoernig als Ansprechpartner bei Störungen. Herr Hoernig ist seit einigen Jahren tot.
Hansen könnte zufrieden sein. Morgen noch Neuss und Düsseldorf, dann haben sie die Quartalstour geschafft. Aber Krefeld fuchst ihn noch immer. Schon vorher hatte er gewusst, dass es dort länger dauern könnte. Diebe hatten versucht, an die Einnahmen zu kommen, und dabei die Münzschächte so verbogen, dass kein Geld mehr durchrutschte.
Als Hansen und Mones am Morgen gegen 9 Uhr eintreffen, machen sie sich sogleich daran, das defekte der beiden Steuerpulte auszubauen und das Loch mit einer Metallplatte zu verschließen. Hansen tritt gleich mal in Taubendreck. „Sauerei“, sagt er. Er zieht die Schrauben richtig fest. Danach gehen sie ihrer Routine nach.
Hansen säubert ein paar Schienen mit Lappen und Feuerzeugbenzin, der Zug hakt an der Stelle. Danach klebt er eine Feuerwehrleiter mit einem Klebestreifen an einen Feuerwehrwagen. Sonst kann der Brand mit dem Rauch aus grauer Wolle nicht gelöscht werden.
Das Unglück beginnt mit einem Trafo. Jedem Zug ist unter der Platte ein Trafo zugeordnet, der die Geschwindigkeit vorgibt. Die beiden sind bereits im Begriff zu gehen, da fällt einer der Trafos aus. Kein Grund zur Sorge. Alter Trafo raus, neuer Trafo rein. Ein Mann geht hochdruckreinigend an ihnen vorbei, der Hochdruckdreiniger wird durch einen Generator angetrieben.
„Mann.“Hansen flucht. Doch Grund zur Sorge. Er kniet nun. Ein Draht, der vom Münzschalter wegführt, ist herausgerissen. Nichts würde passieren bei Geldeinwurf. Sie probieren und probieren, nichts gelingt. Keine Spannung mehr auf der Anlage. Zeit, Dieter anzurufen. Wenn jemand helfen kann, dann er. Dieter hat die Technik in den 60ern entwickelt, sie hat sich seitdem nicht verändert. Er ist der einzige noch lebende Mensch, der sich auskennt. Zwar gibt es Pläne, aber in die müsste sich erst jemand einarbeiten. Kurzes Gespräch, Hansen lacht. „Danke dir.“
Die Stimmung schlägt schnell wieder um. Problem doch nicht gelöst. Der Mann mit dem Hochdruckreiniger brummt nun mit der Kehrmaschine an ihnen vorbei. Hansen ist unter Spannung, die Anlage kein bisschen. Ein zweites Mal ruft er Dieter an, sie tauschen einen Einschub aus, sie knien, sie hocken, sie legen sich auf den Bauch in ihren Pullovern und Jeans. Hansen ist mehrfach kurz davor aufzugeben. „Ist das eine Scheiße hier.“
Die Anlage scheint zu klemmen, sie zuckt immer kurz, wenn Hansen auf einen der Knöpfe am Steuerpult drückt. Dritter Anruf bei Dieter, es ist schon nach elf, dann die Kapitulation. Mit einer Küchenpapier-Papprolle verschließt Hansen die Münzschlitze von innen, mit einem Klebestreifen von außen. Die Krefelder Bahn ist stillgelegt. Vorübergehend.
Am Dienstagmorgen wird er wieder hinfahren, mit Dieter. Dieter wird auf die Idee kommen, einen zweiten Einschub auszutauschen. Danach fahren die Züge wieder. Das Deutschland, das vielen Menschen für fünf Minuten das Herz aufgehen lässt, ist wieder einmal gerettet.
Hauptsache, es ist kein Motor defekt, denn diese Motoren werden schon lange nicht mehr hergestellt
Das Deutschland in den Glaskästen ist bedroht. 36 Anlagen hatte das Unternehmen einst, mittlerweile sind es nur noch 24