Wie wir die Welt kaputtreisen
Städte wie Barcelona, Venedig und Amsterdam leben vom Tourismus, gleichzeitig werden sie von den wachsenden Menschenmassen zerstört. „Overtourism“heißt das Schreckgespenst der Branche.
Wer den Eiffelturm hochfahren möchte, Leonardo DaVincis Meisterwerk „Mona Lisa“sehen oder eine Münze in den Trevi-Brunnen werfen, dem bietet sich meistens ein ähnliches Bild: Menschen reihen sich im Gänsemarsch aneinander, so schön, wie man sich die Attraktion vorgestellt hat, ist sie dadurch meistens nicht. Paris, Amsterdam, Rom, Berlin, Barcelona – viele Städte in Europa sind seit Jahren touristisch so überlastet, dass nicht mehr von Massentourismus, sondern von „Overtourism“, also Übertourismus, die Rede ist.
Das Phänomen betrifft nicht nur Städte, auch Strände und Naturschauplätze sind zunehmend überfüllt. Im vergangenen Jahr haben insgesamt 1,4 Milliarden Menschen eine touristische Reise ins Ausland gemacht. Über die Hälfte, rund 713 Millionen Menschen, machten Urlaub in Europa.
In den Städten leiden die Bewohner während der Saison oder sogar dauerhaft. Ihr Lebensstil ändert sich: Wohnraum wird von Ferienunterkünften verdrängt, die Mieten steigen. Der Tourismus bestimmt die Preise im Einzelhandel und in der Gastronomie. Lärm undVerschmutzung nehmen zu, vor allem in Bezirken, die Partytouristen anziehen. Die Menschenmassen überlasten die Infrastruktur. Und die Stadt verödet: Ist die Saison erst mal vorbei, ziehen sich die lokalen Tourismus-Anbieter zurück. Geschäfte und Gastronomie der Bewohner sind schon lange gewichen – was übrig bleibt, ist ein Ort ohne Leben, ein Museum bei Nacht.
Vielerorts protestieren Bürgerinitiativen gegen die Touristifizierung ihrer Stadt. Im Amsterdamer Rotlichtbezirk machen Anwohner mit der Initiative „I live here“auf sich aufmerksam und zeigen auf riesigen Fotos an den Hauswänden ihr Gesicht.
Besonders schlimm betroffen ist seit Jahren Venedig. Die auf Inseln gelege
ne historische Altstadt ist gerade einmal 5,2 Quadratkilometer groß, mit ihren Kanälen und Brücken gilt sie für viele als die eigentliche Attraktion. Das Verhältnis zwischen Einwohnern und Touristen ist seit Jahrzehnten aus der Balance: In den vergangenen 40 Jahren hat sich die Anwohnerzahl auf 54.000 halbiert. Schätzungen zufolge besuchen jährlich bis zu 30 Millionen Menschen die Stadt. Das ist in etwa so, als würden alle Einwohner der Benelux-Staaten jedes Jahr die Innenstadt von Kleve besuchen.
Für Tagestouristen, die keine Übernachtungskosten zahlen, will die Lagunenstadt ab September eine Gebühr einführen. Jeder Besucher zahlt dann die Pauschale von zunächst drei Euro, ab Januar 2020 sechs Euro, zehn Euro sollen es je nach Andrang einmal werden. Hotelgäste sind von der Gebühr nicht betroffen, da sie bereits eine Ortstaxe entrichten.
Das Geld soll in die Instandhaltung und Reinigung der Stadt fließen. Ähnliche Bezahlmodelle in Form von Kurtaxen oder Bettensteuern gibt es in vielen europäischen Städten. Ob sie der Entvölkerung entgegenwirken und der Stadt ihren Charakter zurückgeben, ist zu bezweifeln. Solange eine Gebühr mehr oder weniger erschwinglich ist, wirkt sie wohl kaum regulierend und füllt vielmehr die Kassen der Stadt.
Das eigentliche Problem des modernen Tourismus ist nicht die Anzahl der Reisenden, sondern das Tempo, mit dem sie sich bewegen. Reisen war noch nie so einfach und flexibel wie heute. Die Sharing-Industrie hat das möglich gemacht: Über Airbnb finden Touristen bezahlbare Unterkünfte in den teuren Bezirken von Paris und London. Billigflieger fliegen über den Atlantik, Kreuzfahrtschiffe spucken im Stundentakt neue Menschenmassen aus. Dazu kommt der ideologische Stellenwert, den das Reisen mittlerweile hat: Wichtiger als das eigene Erleben ist bei manchem das Foto vom Erlebten, das im Netz geteilt wird.
Inzwischen ist es unstrittig, dass die Politik stärkere Restriktionen vornehmen muss. Kurzzeitvermietungen wie bei Airbnb werden bereits in vielen Städten reguliert. In Barcelona benötigen Einheimische zum Beispiel eine Lizenz, jeder darf dort nur eine Ferienwohnung vermieten. Auch in Amsterdam besteht für die Vermietung der eigenenWohnung eine Grenze von maximal 30 Tagen im Jahr. Wenn der Tourismus die Kapazität einer Stadt überfordert, muss ein Baustopp für Hotels und Souvenirläden verhängt werden. Miet- und Steuervorteile für die ansässigen Bewohner und das lokale Gewerbe könnten eine sinnvolle Maßnahme gegen Entvölkerung sein.
Ein Problem bleibt die Saisonabhängigkeit:Viele Urlauber sind nun mal angewiesen auf die Ferienzeit und reisen bevorzugt in den Sommermonaten. Touristenströme müssen durch eine bessere Stadtplanung gelenkt werden. Die Polizei hat in Venedig bereits Straßen und Plätze abgeriegelt und Drehkreuze eingerichtet. Wie auch in Amsterdam gibt es Pläne, das Kreuzfahrtterminal zu verlegen. In Dubrovnik – Drehort der Serie „Game of Thrones“und Ziel von Filmtouristen – sind pro Tag bereits nur zwei Schiffe gestattet, täglich dürfen maximal 5000 Touristen an Land. Online-Anmeldesysteme können den Andrang von Besuchern sinnvoll reduzieren.
Dem Problem des„Overtourism“lässt sich am Ende wohl einfacher vorbeugen, als es sich reparieren lässt. Dafür ist ein Umdenken des Reisenden erforderlich. Denn auch für ihn sind überfüllte Attraktionen nicht angenehm. ImWorld Travel Monitor gab jeder zehnte internationale Reisende (insgesamt 100 Millionen) an, dass die Qualität seiner Reise durch Übertourismus beeinträchtigt war.Während die immer gleichen Städte an der Zahl ihrer Besucher ersticken, gibt es andere Orte, die die Einnahmen nötig hätten. Dazu müsste man nur den touristischen Tunnelblick loswerden: Denn wer nur dem folgt, was die Masse für sehenswürdig hält, braucht sich eigentlich nicht zu wundern, wenn er dort anderen auf den Füßen steht.
Auf 54.000 Einwohner in Venedigs Altstadt kommen jährlich bis zu 30 Millionen Touristen