Sein letzter Wunsch
Oliver Moßmann weiß, dass er bald sterben wird. Der Ratinger leidet an einer unheilbaren Nervenkrankheit. Doch eines möchte er noch erleben: die Geburt seines Kindes in wenigen Tagen. Im Internet sammeln Freunde Spenden.
RATINGEN Er sagte es ihr beim zweiten Date. Sie saßen in einem Café, Herbst 2016, seine dicke Weste behielt er an. Sie würde danach ja doch gehen, dachte er.
Sie kannten sich erst seit einigen Wochen. Er: Oliver, Jahrgang 1969, Referent bei einem Seminar für Deeskalation. Sie: Marina, zehn Jahre jünger, Mitarbeiterin im Jobcenter und eine der Teilnehmerinnen. Er hat gleich das Gefühl, er sitze einer Sonne gegenüber. Sie kann die Augen nicht von ihm lassen. Die anderen Teilnehmer tuscheln bald. Er sorgt dafür, dass sie seine Telefonnummer bekommt.
Im Café sagt er: „Ich muss dir was sagen.“Ihr Herz klopft, sie erwartet sonst was, hat die Teetasse in der Hand. Er sagt, er habe amyotrophe Lateralsklerose (ALS), eine tödlich verlaufende Nervenkrankheit. Sie stellt die Teetasse weg. Ihre Tränen fallen auf die Pizza. Er könnte verstehen, wenn sie jetzt geht, doch sie sagt: „Ich bleibe bei dir.“Seitdem sind sie zusammen.
Von Anfang an ist ihnen klar, dass ihre Liebe nur wenig Zeit hat. Drei Jahre ist es her, als er bemerkte, dass er den linken Fuß nicht mehr richtig anheben kann. Nach der Diagnose ALS lässt er sich den Spruch „Nichts ist für die Ewigkeit“auf den rechten Unterarm tätowieren, nicht sein erstes Tattoo.
Die Krankheit greift die Nerven an, so dass die Verbindung zu den Muskeln verlorengeht. Die Betroffenen können sich immer weniger bewegen, schließlich gar nicht mehr. Am Ende ersticken sie, weil auch die Atemmuskulatur von der Erkrankung betroffen ist.
Von Anfang an bestimmt die Krankheit den Rhythmus. Marina und Oliver haben keine Zeit, sich Zeit zu lassen. Ein Jahr, nachdem sie sich kennengelernt haben, ziehen sie in Ratingen zusammen, dann heiraten sie. Anfang 2018 kann Oliver noch laufen und selbständig essen, dann erhöht die Krankheit das Tempo.
Im Herbst 2018 kommt er wieder mal ins Krankenhaus. Er denkt, er geht zum Sterben hin. Dann sagt ihm seine Frau:„Ich bin schwanger.“Dabei haben sie das Thema längst aufgegeben. Er mit seiner Krankheit, sie beinahe 40. Andere Väter freuen sich über eine solche Nachricht, für ihn ist der Gedanke unerträglich. Nun ist da noch eine Person, von der er sich verabschieden muss. Er hat bereits – wie sie – einen Sohn aus einer früheren Ehe. Das Kind würde ohne Vater aufwachsen, seine Frau wäre mit ihm alleine.
Bis heute ist da dieser entsetzliche Gedanke, dass er dieses Kind zurücklassen wird, aber mittlerweile ist da auch diese Vorfreude. Dabei weiß er nicht mal, ob er die Geburt noch erleben wird. Es ist der letzte Wunsch, den er noch hat. Die Krankheit verläuft mal schneller, mal langsamer. An einem Tag geht es ihm einigermaßen gut, am nächsten Tag geht nichts mehr. Schon vor langer Zeit hat er abgelehnt, sich künstlich beatmen zu lassen.„Meine Kinder sollen nicht sehen, dass ich nur noch durch eine Maschine lebe.“
Mittlerweile hat er die höchste Pflegestufe, seine Frau kümmert sich trotz Schwangerschaft 24 Stunden am Tag um ihn. Er sitzt in einem Rollstuhl, den er mit einem Joystick steuert. Gegen die Atembeklemmungen nimmt er Morphium. Seine Stimme versagt meist nachmittags. Die Familie hat Hilfsmittel bei der Krankenkasse beantragt, aber das dauert. Ein neuer Rollstuhl ist gerade bewilligt worden, aber die Augensteuerung, mit der er auch Sätze bilden könnte, und
der Roboterarm noch nicht. Wieder einmal helfen Freunde. Im Internet sammeln sie Spenden für die Geräte, 30.000 Euro brauchen sie.
Der 10. August ist der errechnete Geburtstermin. Oliver war bei allen Untersuchungen dabei, legt jeden Abend die Hand auf Marinas Bauch. Den Kinderwagen haben sie gemeinsam ausgesucht. Freunde haben einen Schichtplan gemacht, wer wann erreichbar ist, um Marina ins Krankenhaus zu fahren. Oliver möchte mit in den Kreißsaal. Vielleicht kann er noch ihre Hand halten. An ihrem rechten Unterarm trägt sie eine Tätowierung, „Wir sind für die Ewigkeit“.
Er möchte das Kind noch so oft wie möglich auf dem Schoß haben, möchte ihm das Köpfchen streicheln. Er hat Sprachnachrichten aufgenommen, sich filmen lassen, wie er ein Kinderbuch vorliest. Für die Zeit, wenn er nicht mehr ist.
Freunde haben ihm gesagt, dass er durch das Kind etwas auf dieser Welt hinterlässt. Es wird ein Junge. Er soll Oliver heißen.