Jeder Zweite leidet unter Digitalisierung
Bei Chemie und Energie führt die Digitalisierung für die Hälfte der Mitarbeiter zu stärkerer Arbeitsverdichtung, ergab eine Umfrage der Gewerkschaft IG BCE. Sie vermissen Strategie und Fortbildung. Nun soll das Thema in die Tarifrunde.
HANNOVER Eigentlich soll die Digitalisierung alles einfacher, schneller, schlanker machen. Doch die Wahrheit in der Chemie- und Energie-Industrie sieht anders aus: 47 Prozent der Beschäftigten beklagen, dass Digitalisierung zu einer stärkeren Arbeitsverdichtung führte. Bei 43 Prozent ist die Arbeitsverdichtung gleich geblieben. Und nur bei neun Prozent hat die Digitalisierung etwas verbessert und dazu geführt, dass die Arbeitsverdichtung sinkt. Das ist das Ergebnis einer repräsentativen Umfrage der Gewerkschaft IG BCE unter 14.000 Beschäftigten der Branchen, die unserer Redaktion vorab vorlag.
„Kein gutes Zeugnis für die Unternehmen“
Francesco Grioli IG BCE-Vorstand
Und das liegt nicht daran, dass die Beschäftigten sich dem Fortschritt verweigern: 71 Prozent der Beschäftigten sagen, dass sie sich neuen beruflichen Herausforderungen durch die Digitalisierung gewachsen fühlten. Nur vier Prozent tun das nicht, 25 Prozent sagen teils-teils. Auch wissen die Beschäftigten genau, dass sich an dem Thema die Zukunft ihrer Unternehmen entscheidet: In allen Branchen sieht die Mehrheit der Beschäftigten die Digitalisierungs-Strategie ihres Unternehmens als wettbewerbsrelevant an. 54 Prozent der Befragten sagen auch, dass sie offen für Veränderungen am Arbeitsplatz seien.
„Die Befragten stellen den Unternehmen kein gutes Zeugnis aus“, sagt Francesco Grioli, im IG BCE-Vorstand für Digitalisierung zuständig: „Hier bleiben viele Chancen der Digitalisierung liegen, zudem werden die Mitarbeiter oft nicht mitgenommen.“
Das zeigen auch weitere Details der Umfrage: So weiß mehr als die Hälfte der Beschäftigten nicht, was ihr Betrieb bei der Digitalisierung vorhat. 56 Prozent der Befragten geben an, dass sie kein klares Verständnis von der Digitalisierungs-Strategie ihres Betriebes hätten. 24 Prozent sagen teils-teils. Das heißt: Die Mehrheit der Betriebe nimmt die Belegschaft nicht mit, sie lässt sie über den Kurs bei der Digitalisierung im Unklaren – oder hat womöglich gar keinen.
Zudem beklagen die Beschäftigten, dass die Unternehmen zu wenig Weiterbildung anböten: 47 Prozent sagen, betriebliche Rahmenbedingungen hätten ihnen keine Teilnahme an Fortbildungen zur Digitalisierung ermöglicht, 28 Prozent sagen teils-teils. Nur ein Viertel der Beschäftigten erhält die Möglichkeit. Das ist ein echtes Problem angesichts der Umwälzungen, die die Digitalisierung auch in den Branchen bedeutet.
Die Gewerkschaft will das nicht hinnehmen. „Wir wollen in der kommenden Chemie-Tarifrunde eine Qualifizierungsoffensive durchsetzen“, kündigt Grioli an. Auch kleine Betriebe müssten Weiterbildung anbieten – „die Tarifpartner müssen helfen, dass Weiterbildung etwa im Verbund organisiert wird“. Gleichzeitig fordert die Gewerkschaft ein Zukunftskonto – „es soll den Beschäftigten angesichts der stetig wachsenden Arbeitsbelastung Möglichkeiten für mehr Freizeit geben“, erläutert der Gewerkschaftsvorstand. „Wir werden alle unsere Mittel nutzen, um die Beschäftigten an den Chancen der Digitalisierung teilhaben zu lassen“, so Grioli weiter. Die Bundestarifkommission will Mitte September ihre Forderungen für die Branche mit 580.000 Beschäftigten beschließen, am 30.September starten die Verhandlungen in Nordrhein.
Die„Stiftung Arbeit und Umwelt“hat im Auftrag der IG BCE Beschäftigten in allen Branchen der Gewerkschaft befragt: neben Chemie und Energie sind das Pharma-, Kautschuk-, Papier und Zement-Industrie.
Zugleich zeigt die Umfrage, wie die Digitalisierung in den Branchen aussieht: Digitale Kommunikationssysteme wie Mail, Intranet und Videotelefonie werden bereits häufig genutzt. Big Data und vor allem Künstliche Intelligenz sind in der großen Mehrheit der Unternehmen dagegen noch Fremdworte. Hier haben die klassischen Industriebranchen offenbar auch noch Nachholbedarf gegenüber anderen Branchen. Und wer ist besonders weit?„BASF hat den Anspruch, beim Thema Digitalisierung der führende Chemie-Konzern zu sein. Daher hat die BASF in Ludwigshafen auch einen Super-Computer angeschafft, den weltweit Entwickler des Konzerns nutzen“, sagt Grioli. „Bayer ist auf gutemWeg – auch was Maßnahmen gegen die wachsende Arbeitsverdichtung angeht. Ich hoffe, dass Bayer das jetzt nicht wegen seiner anderen Herausforderungen aus den Augen verliert.“