„Beuys fehlt mir immer noch sehr“
In ein paar Tagen wird Harald Naegeli die Stadt verlassen. 35 Jahren hat der „Sprayer von Zürich“in Düsseldorf gewirkt und gearbeitet; im „Exil“, wie er es spaßend nennt. Jetzt zieht es ihn wieder in seine alte Heimat – nach Zürich.
Ein Künstler nimmt Abschied von Düsseldorf. Sein Atelier in Bilk macht einen schon verlassenen Eindruck: Fast alles ist fortgeschafft, bis auf die sogenannte Ur-Wolke. Die steht auf einer Staffelei weit hinten im Raum – und recht verloren. Seit über zwei Jahrzehnten malt Harald NaegeliWolken, 400 an der Zahl. Alle auf weißem Büttenpapier und alle im gleichen Format, 108 mal 75 Zentimeter.
Wobei „malen“das falsche Wort ist: Vielmehr appliziert Naegeli mit Tusche und der Stahlspitzfeder lauter klitzekleine Wolkenpartikel. Sogar aus einem Meter Entfernung sind sie kaum auszumachen. Man muss schon ganz nah herantreten; und der 79-Jährige nimmt seine Hände zur Hilfe und formt daraus eine Art Fernrohr, um die Seiteneinfälle des Lichts abzuschirmen und noch genauer die Details zu sehen.
„Das muss man sich einmal vorstellen: Fast 80 Jahre bin ich alt geworden“Harald Naegeli Künstler
Fast alle dieser Wolken sind inzwischen verschenkt und abgegeben, unter anderem an Freunde und Museen der Stadt. Bis auf diese Ur-Wolke, auf deren Rückseite das „Tagebuch“steht. Darin hat Harald Naegeli akribisch festgehalten, an welchen Tagen und zu welchen Uhrzeiten er an der Wolke gearbeitet hat. Manchmal sind es ein paar Verse, gelegentlich auch Zeichnungen. Ein großes Protokoll seines Schaffens, ein künstlerischer Arbeitsnachweis. Wo ist der letzte Eintrag?, fragt sich Naegeli. Ah da, 2019.
Was die Wolken ihm bedeuten? Auf jeden Fall nichts Romantisches. Für ihn ist es vor allem eine Abstraktion,„die mögliche Sichtbarmachung einer Utopie“, sagt er. Das Kosmische sei für ihn der Schlüsselbegriff.
Dabei ist Harald Naegeli nicht als Wolkenmaler bekannt, sondern als „Sprayer von Zürich“, der für seine anarchische Graffiti-Kunst einst eine sechsmonatige Gefängnisstrafe in der Schweiz verbüßte. Der auf Umwegen nach Düsseldorf kam und hier fast 35 Jahre im Exil wirkte und arbeitete. Der eng mit Beuys befreundet war – „er fehlt mir immer noch sehr“, sagt er –, auch mit Werner Schmalenbach, dem früheren Direktor der Kunstsammlung. Dessen Hut hat ihm seine Witwe geschenkt. Und bei seinem Gang durchs leere Atelier trägt er ihn jetzt.
Dass Susanne Gaensheimer, die jüngste Direktorin des Museums, seine Schenkung von etwa 20 Papierarbeiten ohne Angabe von Gründen abgelehnt hat, erstaunt ihn nicht. Er ist nicht verbittert, aber wenn er nach möglichen Gründen fragt, findet er die Antwort, dass die neue Direktorin nach seinen Worten „koste es was es wolle, sich in der aktuellen Ausstellung mit einem Künstler zu profilieren sucht, der sich jetzt schlagartig als Pseudorevolutionär entlarvt: der wie die Made im Speck in seinem Gastgeberland leben konnte und nun dieses willkürlich politisch maßlos beschuldigt und nun gekränkt in seinem Narzissmus mit prallem Geldsack wieder abzieht!“
Bei Harald Naegeli überwiegt an seinen letzten Düsseldorfer Tagen das Staunen. Die Stadt verliert mit ihm einen weithin bekannten Künstler, einen namhaften und renommierten, sicherlich aber nicht arrivierten. Ein solches Etikett will irgendwie nicht zu Harald Naegeli passen, dem Unkonventionellen, der – trotz seiner Krankheit –, manchmal noch nachts unterwegs ist in Sachen seiner Kunst. Ein „Vermächtnis“für Düsseldorf hat er auch nach all den Jahren nicht. Wohl könnte er sich vorstellen, einen großen, gesprayten Fisch unten am Rhein zu hinterlassen. Mal sehen. Und dann lächelt er vielsagend.
Wie überhaupt Harald Naegeli mit großer Gelassenheit Düsseldorf verlassen wird. Nach Zürich wird es in ein paar Tagen gehen. Seine alte Heimat soll seine neue sein. Und vermutlich auch seine letzte. „Ich teile meine Zeit jetzt sehr stark ein“, sagt er. Und wie ein neugieriger Beobachter seiner selbst fügt er hinzu, dass dies auch mit dem„Verfall“seines Körpers zu tun habe.„Das muss man sich einmal vorstellen: Fast 80 Jahre bin ich alt geworden“, sagt er so erstaunt, als ob das etwas Verbotenes sei.
An Zürich hängen viele Erinnerungen, an den Vater etwa, der Psychologe war und mit den Söhnen von James Joyce berühmte Patienten hatte.„Und einen noch berühmteren Sohn“, fügt er lachend hinzu. Als die Stadt sich über seine ersten Spray-Arbeiten mokierte und die Menschen staunend und rätselnd vor den Figuren standen, schwante dem Vater Böses und er stellte seinen Sohn zur Rede. Nein, habe er damals beteuert, so einen Blödsinn mache er nicht.„Wahrscheinlich hat mir der Vater aber nicht geglaubt. Der hat dabei weniger Angst vor den Leuten auf der Straße gehabt, sondern mehr vor seinen Freunden im Gesangsverein!“
Es ist spät geworden an diesem Abend. Harald Naegeli steigt aufs Rad, erkundigt sich nach dem Heimweg seiner Besucher. Der „Sprayer von Zürich“radelt davon, in die Nacht hinein und den Kopf dennoch weit oben in seinen Wolken der Utopie.