Unsere ewige Schaulust
Inzwischen gibt es keinen Verkehrsunfall mehr ohne Gaffer. Ist die Gesellschaft also rücksichtsloser geworden? Nicht unbedingt. Schaulust hat es immer schon gegeben – und sie war einst sogar ein lebenswichtiger Ref lex.
Und das allein in diesen Tagen: 2. August: Bei einem Rettungseinsatz in Wirges (Westerwaldkreis) fotografieren Schaulustige die Reanimation eines Unfallopfers. 11. August: Nach einem Unfall in Duisburg-Obermarxloh behindern Schaulustige die Unfallaufnahme. 12. August: Eine Frau in Mönchengladbach stirbt bei einem Autounfall, die Rettungskräfte werden von Gaffern behindert. 15. August: Schaulustige fotografieren bei Koblenz einen Unfall und lösen einen riesigen Stau aus. 16. August: 60 Schaulustige behindern Rettungskräfte nach einem Unfall im südbadischen Babenhausen.
Es scheint ungehemmter zu werden, rücksichtsloser. Bei fast jedem Unfall stellen sich Schaulustige ein, je schlimmer das Geschehen, desto größer ihre Zahl. Oder ist es nur unsere Wahrnehmung, die auf solche Vorkommnisse fixiert ist, verstärkt dadurch, dass inzwischen nahezu alles mit Handyfotos und Videos verbreitet wird? Unsere Empörung nährt sich aus der Überzeugung, dass die Schaulustigen immer die anderen sind. Das bringt uns in eine moralisch sichere Lage.
Dennoch sollte sich jeder unbedingt die Frage stellen, wie er selbst in diesen Situationen reagiert. Denn gebannt von solchen extremen Ereignissen ist so gut wie jeder. Allerdings sind viele von uns gesellschaftlich so konditioniert, nicht hinzuschauen und erst recht nicht strafwürdig Rettungskräfte zu behindern.
Ist die Gesellschaft also in einer Spirale rasant zunehmender Rücksichtslosigkeit? Zumindest das sollte bei aller richtigen Empörung auch bedacht werden: Schaulust gab es immer schon, und sie dürfte in grauer Vorzeit überlebenswichtig gewesen sein. In der faszinierten Beobachtung von etwas Besonderem wurde ein wichtiges Informationsbedürfnis befriedigt. Das Hinschauen konnte eine Lehre sein. Das kennzeichnet bis heute die meis
ten Ereignisse, die schaulust-würdig werden: Zumeist sind es negative Erlebnisse, die deshalb unsere Aufmerksamkeit so intensiv beanspruchen, weil man aus dem Unglück anderer möglicherweise lernen kann.
Die Schaulust ist daher keine „modische“Erscheinung. Vielmehr ist das Bedürfnis des Hinschauens ein Reflex, eine anthropologische Konstante. Und jeder möge sich selbst befragen, wie viel Mühe es einen wirklich kostet, den Blick abzuwenden vom Unfallort. Der Soziologe Wolf Dombrowsky vermutet, dass 90 Prozent der Menschen in gewisser Weise sensationsgierig seien. Und die übrigen zehn Prozent? Das seien die Betroffenen.
In halbwegs zivilisierten Gesellschaften nahmen unmittelbare Lebensbedrohungen zwar ab, nicht aber unsere Schaulust. Dafür gab es dann Ersatzereignisse wie Gladiatorenkämpfe im antiken Rom und Hexenverbrennungen im Mittelalter. Öffentliche Exekutionen machten aus dem Schaulustigen plötzlich einen Überlebenden; der Hingerichtete starb den Stellvertretertod.
Der Bochumer Literaturwissenschaftler Klaus-Michael Bogdahl hat eine wichtige Veränderung unserer Schaulust-Befriedigung im 19. Jahrhundert ausgemacht. Das Spektakel auf Leben und Tod wurde symbolischer und so weiter domestiziert. Plötzlich ist es der Faustkampf, der uns fasziniert, das Pferderennen, schließlich der Fußball.
Aus dem Amphitheater mit seinem Programm der brachialen Kämpfe ist die Fußballarena geworden. Das Stadion ist der spielerische, friedlichste Nachfolger der römischen Kampfstätte. Aber das Besondere, Nichtalltägliche ist geblieben: Das Stadion ist der geschlossene Raum, der sich von der Gesellschaft abgrenzt; es gibt darin feste Spielregeln; es gibt eine Spielzeit, die den Wettkampf überschaubar macht. Das Außergewöhnliche, das sich jenseits des gesellschaftlichen Lebens ereignet, unterliegt einer Ordnung. Unser hoher Zivilisationsgrad wird auch darin erkennbar, dass dem Betrachter etwa von Fußballspielen ein gewisses Abstraktionsvermögen abverlangt wird. Unsere Wahrnehmung lebt von dem Widerspruch, wirklich dabei, aber gar nicht betroffen zu sein.
Die Differenz zwischen Erlebtem und Betrachtetem ist im Straßenverkehr deutlich kleiner als bei irgendeiner Sportveranstaltung. Schließlich sind wir alle auch Verkehrsteilnehmer und die meisten von uns obendrein Autofahrer. Das heißt: Wir, die möglichen Betrachter eines Unfallgeschehens, sind potenziell Gefährdete. Aber eben nicht in dieser Situation; diesmal leiden andere. Damit wird vielleicht nicht nur eine voyeuristische und im Extremfall pathologische Lust befriedigt. Weil nämlich der Unfall der anderen die eigene Unversehrtheit betont. Fotos und Filmaufnahmen geben dann Macht und das irrige Gefühl, Herr des Geschehens zu sein.
Aber auch das gehört in dieser Situation der Selbstvergewisserung unbedingt dazu – das Gefühl, nicht allein zu sein. Der einzige Augenzeuge am Unfallort ist ein vielleicht unangenehm berührter Beobachter; in der Masse aber wächst die Schaulust und mit ihr die Enthemmung. Alle Spektakel funktionieren nur mit der Menschenmenge. Die Gladiatorenkämpfe, die Hexenverbrennungen, die Hinrichtungen und Fußballspiele sind Gemeinschaftserlebnisse. Der Schaulustige ist stets auf Verbündete angewiesen.
Und dieser Effekt wird am deutlichsten in der Arena befriedigt. „Es ist der Sinn der Arena, dass in ihr Schicksale in realer Zeit künstlich produziert werden“, sagt der Philosoph Peter Sloterdijk. Denn dort werde die wichtigste Unterscheidung gemacht, die es auf der Welt gibt: „die Unterscheidung zwischen Siegern und Verlierern“.
Schaulust fängt im Kleinen an. Davon lebt die TV-Sendung„Aktenzeichen XY“, die einen selbst bei kleinen Delikten mitgruseln lässt. Alle Szenen sind gespielt, doch es gibt reale Vorbilder. Und wir schauen fasziniert zu, wir, die noch einmalVerschonten und Davongekommenen.
Die Schaulustigen, das sind für uns immer die anderen