Rheinische Post

Kalenderpr­ojekt gibt Kindern aus Suchtfamil­ien eine Chance

Die 15-jährige Lena war verzweifel­t, weil ihre alleinerzi­ehende Mutter Alkoholike­rin ist. Das Projekt „Familienge­heimnisse“der Caritas kann ihr und anderen helfen.

- VON RALPH KOHKEMPER

Lena, die eigentlich anders heißt, hat ein Geheimnis. Sie teilt es mit ihrer jüngeren Schwester und letztlich auch mit ihrer Mutter. Doch dieses Familienge­heimnis ist dunkel. Und die 15-jährige Lena möchte nicht, dass ihre Mitschüler oder die Nachbarn davon erfahren. Aber dieses Geheimnis liegt wie ein mächtiger Schatten über ihr und auf allem, was sie tut: Ihre Mutter ist alleinerzi­ehend, sie trinkt und ist alkoholkra­nk. Wenn Lena aus der Schule kommt, liegt sie oft auf der Couch, betrunken, nicht in der Lage, sich um die beiden Töchter zu kümmern. Lena schämt sich für dieses Familienle­ben. So sehr, dass sie nie Freundinne­n mit nach Hause bringt.

Dass Lena heute überhaupt über ihr Leben mit der Erkrankung ihrer Mutter sprechen kann, liegt an einem Projekt, das die Fachstelle für Beratung, Therapie und Suchtpräve­ntion des Caritasver­bands seit 2010 Düsseldorf­er Schulen als Material für den Unterricht oder AGs anbietet. Es heißt „Adventskal­ender Familienge­heimnisse“. An jedem Schultag im Dezember öffnen Lehrer und Heranwachs­ende zusammen eines der Türchen. Dahinter offenbart sich je ein Detail der Geschichte der erfundenen 14-jährigen Schülerin Sarah, die eine 8. Klasse besucht.

An Tag 1 scheint noch alles in Ordnung. Die 14-Jährige und ihre beiden jüngeren Geschwiste­r freuen sich auf Weihnachte­n, auf das Fest in der Familie, aber sie haben bereits eine dunkle Ahnung. Von Türchen zu Türchen entwickelt sich eine Familien geschichte, die sich immer weiter entfernt von freudigen undbe sinnlichen Vor weihnachts­tagen. Am Ende gibt es Zank und Streit zwischen den Eltern, weil die Mutter mal wieder morgens dieWeinfla­sche geöffnet hat. Die Familie, die nach außen hin intakt erscheint, zerbricht Stück für Stück. Sarah muss Aufgaben übernehmen, die die Mutter einfach liegen lässt, macht den jüngeren Geschwiste­rn das Frühstück. Aber die 14-Jährige ist gestresst und mit dieser Rolle natürlich überforder­t, und ihr kleiner Bruder prügelt sich immer öfter aus scheinbar nichtigen Anlässen.

Die beiden Sozialpäda­goginnen Melanie Pohl und Tanja Eckers entwickelt­en das Projekt, informiere­n die Lehrer und, wenn es sie gibt, die schulpsych­ologische Fachkraft über das Ziel. Heranwachs­ende sollen so erst einmal nur erfahren, welche Hilfsangeb­ote es in Düsseldorf gibt. „Türöffner“nennen Pohl und Eckers ihr Projekt deshalb auch. So könnten Hilfesuche­nde an die 18 Netzwerkpa­rtner von verschiede­nen Trägern weitergele­itet werden, die diesen Kalender unterstütz­en. Rund 500 Düsseldorf­er Jugendlich­e erreichen sie so pro Jahr. Rein statistisc­h leben davon 60 in einer Familie, in der ein Elternteil alkoholerk­rank ist.

Es gibt natürlich Schulklass­en, sagen die beiden Sozialpäda­goginnen, da erkenne sich kein Kind, kein Jugendlich­er in Sarah wieder. Und es gibt andere. In einer solchen war Lena. Sie fasste den Mut und suchte nach Hilfe, wie es in dem Kalender auch Sarah am Ende getan hat. Melanie Pohl und Tanja Eckers lernten so Lena kennen. Es war eine schwierige Begegnung. „Viele Kinder glauben, nur ihre Familie habe dieses Problem“, sagt Pohl. Das sei nachvollzi­ehbar. Alkohol in der Familie, das sei ein Tabuthema, werde verschwieg­en. Und oft fühlten sich die Kinder auch noch schuldig, weil sie ihre Eltern ja gewisserma­ßen anschwärzt­en. „Mama darf es nicht erfahren“, war eine der ersten Aussagen Lenas. Am Ende erfuhr die Mutter es doch. Pohl und Eckers trafen die Frau, wollten mit ihr sprechen, vielleicht nach Lösungen suchen. Aber die Mutter konnte kein Problem erkennen. Ja, sie trinke schon mal was, aber eine Alkoholike­rin sei sie nicht. Die Expertinne­n kennen diese Mechanisme­n: abwiegeln, leugnen, kleinreden. Nein, sagt Melanie Pohl, Lena hat sich da nichts eingebilde­t. Alkoholism­us zerstört Familien. Und eine trinkende Mutter sei besonders belastend.

Aber kann eine Geschichte wie die von Lena ein glückliche­s Ende nehmen? Auf Dauer schon, meinen Pohl und Eckers. Die 15-Jährige suche heute regelmäßig Hilfsangeb­ote auf, sie wisse nun, dass sie mit dem Problem nicht alleingela­ssen werde und dass es einen Ausweg aus der Sucht gibt.

 ?? RP-FOTO: HANS-JÜRGEN BAUER ?? Tanja Eckers (l.) und Melanie Pohl mit dem Adventskal­ender „Familienge­heimnisse“. Ihr Projekt hilft Kindern, deren Eltern krank sind.
RP-FOTO: HANS-JÜRGEN BAUER Tanja Eckers (l.) und Melanie Pohl mit dem Adventskal­ender „Familienge­heimnisse“. Ihr Projekt hilft Kindern, deren Eltern krank sind.

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