„Die Jugendproteste machen Hoffnung“
Nachdenken über die Natur: Der amerikanische Regisseur zeigt „Das Dschungelbuch“am Düsseldorfer Schauspielhaus.
DÜSSELDORF Robert Wilson ist zurück. Drei Jahre nach seinem großen Erfolg mit „Der Sandmann“bringt er am Düsseldorfer Schauspielhaus„Das Dschungelbuch“auf die Bühne, die Geschichte des Kindes„Mowgli“, das im Dschungel bei den Tieren aufwächst und erst nach einer abenteuerlichen Reise durch dieWildnis zu seinen Eltern zurückkehrt. Ein fröhlicher, ironisch-witziger Bilderbogen soll diese Inszenierung werden (Premiere am 19. Oktober). Und auch Wilson (78) wirkt kurz vor der Probe fast heiter.
Wann haben Sie das „Dschungelbuch“gelesen?
WILSON Meine Tante Gertrud, die Schwester meines Vaters, hat es mir vorgelesen. Ich war sieben oder acht. Sie war eine großartige Geschichtenerzählerin, genau wie mein Vater. Als ich mich jetzt mit der Geschichte beschäftigt habe, hatte ich im Ohr, wie meine Tante Gertrud das „Dschungelbuch“vorlas.
Welche Geschichte erzählen Sie?
WILSON Es ist eine Geschichte über Familien und wie sie zusammengesetzt sind – wie einer den anderen ergänzt.
Sie haben die Rolle des Jungen Mowgli durch eine Frau besetzt, Cennet Rüya Voß spielt die Rolle. Warum?
WILSON Weil ich die Farbe ihrer Stimme mag. Mich interessiert nicht, ob ein Schauspieler männlich oder weiblich, ob er schwarz oder weiß ist. Das hat mich nie interessiert. Vor Jahren habe ich „King Lear“von der damals 80 Jahre alten Marianne Hoppe spielen lassen – weil es damals in ganz Deutschland keinen Besseren für diese Rolle gab. Hoppe war nie sentimental, sie konnte Sprache beißen, sie musste diese Rolle spielen.
„Das Dschungelbuch“wird meist als ein Stoff für Kinder inszeniert. Eignet sich auch Ihre Arbeit für Kinder?
WILSON Ich hoffe es. Jedenfalls sage ich den Schauspielern ständig, dass sie sich Kinder im Publikum vorstellen sollen.
Kritiker schreiben manchmal, Ihre Inszenierungen wirkten wie Seiten eines Bilderbuchs. Ärgert Sie das?
WILSON Nein, das ist ein Kompliment. Das schätze ich auch an Walt Disneys Bearbeitung des „Dschungelbuchs“. Ich habe seinen Film gesehen und mag ihn nicht besonders, aber Disney ist brillant darin, die Geschichte in äußerst wenigen Worten zu erzählen. Wie ein Bilderbuch. Darin gibt es auch nur wenigeWorte – Schlüsselworte, universale Worte –, und die Bilder erzählen alles. Es ist viel einfacher, Bilder zu verstehen als gesprochene Sprache. Bilder funktionieren überall, in Afrika, in China, weil es Bilder sind.
Das Dschungelbuch erzählt auch vom Verhältnis zwischen Mensch und Natur.
WILSON Ja, das war mir erst gar nicht so klar. Das ist ein zeitloser Stoff, und zugleich ist er politisch. Doch daran versuche ich nicht zu denken.
Weil das Verhältnis von Mensch und Natur so schwierig geworden ist?
WILSON Ich habe mit den Schauspielern viel über Tiere gesprochen. Zum Beispiel darüber, wie ein Grizzlybär lauscht? (Wilson lässt Körper und Miene plötzlich starr werden, bewegt nur die Augen und sieht tatsächlich
aus wie ein wachsamer Bär.) Wie wäre es, wenn jetzt ein Bär mit uns im Raum wär? (Er lauscht wieder.)
Kleist hat gesagt, ein guter Schauspieler ist wie ein Bär – er bewegt sich nie zuerst. (Wilson lacht.) Ein Bär wartet immer auf sein Gegenüber, also seien Sie vorsichtig, wenn Sie sich bewegen!Wie schleicht sich ein Hund an einen Vogel heran?
Wie denn?
WILSON Sein ganzer Körper lauscht. Seine Pfote schwebt über dem Boden, sein Körper, seine Rute, alles lauscht. Ein Hund hört niemals nur mit den Ohren. Ich habe einen gehörlosen Jungen adoptiert. Als er ungefähr 13 war, habe ich festgestellt, dass auch er mit seinem Körper hören kann. Seine Ohren haben absolut nichts aufnehmen können, aber wenn er mir den Rücken zuwandte und ich seinen Namen aussprach, wie es gehörlose Menschen tun, dann hat er sich herumgedreht. Er hat die Vibrationen gefühlt. Und ein Grizzlybär hört mit den Augen.
Sie haben Tierbewegungen studiert?
WILSON Ich war mal für eine Inszenierung in Berlin und bin sehr spät in den Zoo gegangen. Man hat mich kurz vor Schluss hereingelassen. In einem Gehege stand ein wunderschönes Rudel grauer Wölfe auf einer Felsenlandschaft. Ich trat von hinten an sie heran, habe geschaut; sie haben mich bemerkt, aber kein Tier hat den Kopf gewendet. Zehn Minuten standen wir so da. Das war, als sei ich einer von ihnen, als gehörte ich zum Rudel. Dann kam der Zoowärter, und die Intensität zwischen uns war zerstört.
Ist der Mensch des 21. Jahrhunderts dabei, seinen Kontakt zur Natur zu zerstören?
WILSON Die Gefahr besteht.
Kann das Theater die Menschen wieder das Lauschen lehren?
WILSON Ich finde Theater schrecklich, das etwas lehren will. Das sollen Schulen tun. Aber wir können im Theater über unsere Instinkte nachdenken und darüber, was wir von den Tieren lernen können.
Oder darüber, wie wir mit unserer Natur umgehen?
WILSON Ja, auch darüber. Das ist die Tragödie unserer Zeit. Gerade bin ich in Paris in eine Demonstration geraten. Umweltaktivisten drangen mit Tränengas ins Theater ein, wir wollten proben! Aber ich bin froh, dass junge Leute für die Umwelt auf die Straße gehen. Und auch, dass Menschen in Hongkong demonstrieren. Gerade habe ich mit Ai Weiwei darüber gesprochen, und wir waren uns einig: Die jungen Leute sind entschlossen. Sie werden nicht aufgeben! Sie haben ein ernstes Anliegen. Und junge Menschen können die Dinge wenden. Sie sind schon dabei. Nicht Donald Trump.
Sie halten die Proteste für ein Zeichen der Hoffnung?
WILSON Absolut. Mit Jessye Norman habe ich mal einen Abend mit Spirituals gemacht. Das ist Musik von Menschen, die versklavt und geschlagen wurden und nichts anderes lesen durften als die Bibel. Doch es gibt nicht ein negatives Lied! Alle Lieder handeln von der Hoffnung, nach Afrika zurückzukehren. Was für eine Lehre! Die dunkelsten Momente im Leben brauchen Licht, brauchen Hoffnung. Anne Frank hat, versteckt vor den Nazis, unter Todesgefahr in ihr Tagebuch geschrieben: Ich glaube, dass die Menschen im Herzen gut sind. Wow!