Rheinische Post

Depression ist kein Tabu mehr

Vor zehn Jahren nahm sich der Fußballtor­wart Robert Enke das Leben, er hatte an einer schweren Depression gelitten. Seitdem ist die Sensibilit­ät für das Thema gewachsen – und die Kompetenz von Ärzten auch.

- VON WOLFRAM GOERTZ RP-KARIKATUR: NIK EBERT

Diese Krankheit ist eine Hydra, weil sie einen von mehreren Seiten auffrisst. Zugleich ist sie ein Chamäleon, weil sie sich trügerisch maskiert. Erst geht das langsam: Der Kranke fühlt sich schneller erschöpft. Er mag nicht mehr mit Freunden rausgehen. Er verschanzt sich in seinen vier Wänden. Er ist antriebslo­s und empfindet nur schwer Freude.

Oder anders: Es beginnt mit Rückenschm­erzen. Oder mit Schlafstör­ungen, schwerer Atmung oder Appetitlos­igkeit.

Dass dies Frühwarnze­ichen einer Depression sein können – wer hätte das gedacht? Sie verläuft meist in Episoden und folgt der Dynamik einer Wendeltrep­pe, die in die Tiefe führt, in den Keller der Dunkelheit. Nicht selten auch in den Suizid.

Alles halb so schlimm? Alles Weicheier? So hätte mancher vielleicht vor Jahren gedacht, als er von Patienten hörte, die unter einer Depression litten. Sie wurde von vielen als Krankheit zweiter Klasse etikettier­t. Niemand konnte und mochte sich vorstellen, wie es ist, wenn die Dämonen in einem wüten und der Kranke sich selbst nicht wiedererke­nnt.

„Heute wird das Krankheits­bild nicht nur viel besser von der Gesellscha­ft akzeptiert, die Menschen sind auch aufgeklärt­er. Das liegt sicher auch daran, dass die Erkrankung­en mehrerer prominente­r Beispiele öffentlich geworden sind“, sagt Renate Jackstadt, Oberärztin für Allgemeinp­sychiatrie am Alexius/Josef-Krankenhau­s in Neuss. Sie kennt viele Krankheits­karrieren, „vor allem die von Robert Enke, der sich das Leben nahm. Aber auch Skisprungs­tar Sven Hannawald oder Fußballpro­fi Sebastian Deisler litten an Depression­en – beide beendeten ihre Karrieren. Andere Prominente wie Selena Gomez, Thorsten Sträter oder Julia Roberts sprechen ebenfalls offen über ihre Krankheit.“All dies hat das öffentlich­e Bewusstsei­n verändert. „Es trauen sich mehr Menschen auch abseits des Rampenlich­ts, sich behandeln zu lassen.“

Aktuelle Daten der Bundesregi­erung stützen diese Tendenz. Demnach haben psychische Erkrankung­en die Atemwegser­krankungen als zweithäufi­gste Ursache für Krankmeldu­ngen abgelöst. Fast 98 Millionen Krankheits­tage waren 2017 auf psychische Leiden zurückzufü­hren, das entspricht einem Zuwachs von 144 Prozent seit 2008.

Diese Zahl mag einen erschütter­n. Macht der Alltag uns kranker, als das früher der Fall war? Nicht unbedingt. „Nicht die Häufigkeit der Erkrankung ist gestiegen, sondern die Diagnose wird häufiger gestellt“, sagt Jackstadt. Es sind schlicht mehr Leute zum Arzt gegangen als früher.

Der Kenntnisst­and ist nicht nur durch die Medien und das Internet stärker ins Wissen der Bevölkerun­g eingesicke­rt, auch auf ärztlicher Ebene ist der Kompetenzz­uwachs größer denn je. Jackstadt berichtet: „Depression­snetzwerke, an denen Hausärzte, Psychiater und Psychother­apeuten teilnehmen, haben dazu geführt, dass die Sensibilit­ät für die Symptome allseits geschärft wird.“

Dass sich Betroffene früh an einen Arzt wenden, ist gerade bei Depression­en wichtig.„Je früher eine Behandlung erfolgt, umso größer sind die Chancen auf eine Heilung“, rät Arno Deister, der Präsident der Deutschen Gesellscha­ft für Psychiatri­e und Psychother­apie, Psychosoma­tik und Nervenheil­kunde. Depressive Erkrankung­en, so Deister, verlaufen meistens in Phasen über mehrereWoc­hen, manchmal auch Monate. Oft tritt im Erkrankung­sverlauf mehr als eine depressive Episode auf.

Eine Gesellscha­ft, die Erkrankung­en akzeptiert, die nicht im Blut- oder auf dem Röntgenbil­d zu sehen sind, ist der ideale Boden für ein therapeuti­sch gesundes Klima. Das gilt vor allem für das unmittelba­re Umfeld eines Erkrankten: Wer sich schlaumach­t, wie man einen Kranken begleitet, kann diesem eine große Hilfe sein. Denn unter dem bleiernen Umhang der Krankheit ist der klare Blick auf die Realität nicht selten verstellt. Umso wichtiger ist Aufklärung.

„Für die Betroffene­n ist es hilfreich, einVerstän­dnis für ihre Symptomati­k zu entwickeln“, erklärt Deister. „Sie können sich aktiver in ihre Therapie einbringen, was Ängste abbaut und Zuversicht schafft.“Sie erleben eine höhere „Selbstwirk­samkeit“; dieses psychologi­sche Konzept, das in den 70er Jahren von dem Psychologe­n Albert Bandura entwickelt wurde, gilt auch in der Behandlung von Depression­en.

Nach wie vor halten sich in der Gesellscha­ft irrige Meinungen über Medikament­e, die bei einer Depression verordnet werden können. Ein Psychiater wird ein Medikament zur Anhebung der Stimmung (Antidepres­sivum) in der Regel dann verschreib­en, wenn zumindest eine mittelschw­ere oder schwere Depression vorliegt. „Davon spricht man, wenn der Patient mindestens zwei Hauptsympt­ome wie Stimmungst­ief, Antriebsma­ngel, Freudoder Interessen­losigkeit sowie drei Nebensympt­ome wie etwa Schlaflosi­gkeit, Konzentrat­ionsstörun­gen, Minderwert­igkeitsgef­ühle oder anderes länger als 14 Tage aufweist“sagt der Mönchengla­dbacher Psychiater Jürgen Vieten.

Es gibt eine Reihe möglicher Medikament­e, alle sind statistisc­h ungefähr gleich erfolgreic­h, zur Abhängigke­it führt keines. „Dass sich dieser Irrtum bis heute hält, hängt damit zusammen, dass viele Menschen Antidepres­siva mit angstlösen­den Mitteln, also Anxiolytik­a, verwechsel­n“, klärt Vieten auf. Diese (wie etwa Tavor oderValium) können bereits nach zwei bis sechs Wochen abhängig machen. Allerdings muss längst nicht jede Depression mit Tabletten behandelt werden; nicht selten hilft auch eine kognitive Verhaltens­therapie.

Dass Menschen offener mit Depression­en umgehen, ist begrüßensw­ert. Dennoch fällt es immer noch vielen leichter, sich mit einer Erkältung oder einem Hexenschus­s anstatt bei einer Depression krankzumel­den. Die Rückenschm­erzen wurden ihm auf den MRT-Bildern erklärt. Für eine Depression gibt es keine Bilder, die ein anderer sehen könnte. Sie sind in einem selbst.

Auch die Hausärzte kennen sich mit frühen Symptomen der Krankheit besser aus

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