Depression ist kein Tabu mehr
Vor zehn Jahren nahm sich der Fußballtorwart Robert Enke das Leben, er hatte an einer schweren Depression gelitten. Seitdem ist die Sensibilität für das Thema gewachsen – und die Kompetenz von Ärzten auch.
Diese Krankheit ist eine Hydra, weil sie einen von mehreren Seiten auffrisst. Zugleich ist sie ein Chamäleon, weil sie sich trügerisch maskiert. Erst geht das langsam: Der Kranke fühlt sich schneller erschöpft. Er mag nicht mehr mit Freunden rausgehen. Er verschanzt sich in seinen vier Wänden. Er ist antriebslos und empfindet nur schwer Freude.
Oder anders: Es beginnt mit Rückenschmerzen. Oder mit Schlafstörungen, schwerer Atmung oder Appetitlosigkeit.
Dass dies Frühwarnzeichen einer Depression sein können – wer hätte das gedacht? Sie verläuft meist in Episoden und folgt der Dynamik einer Wendeltreppe, die in die Tiefe führt, in den Keller der Dunkelheit. Nicht selten auch in den Suizid.
Alles halb so schlimm? Alles Weicheier? So hätte mancher vielleicht vor Jahren gedacht, als er von Patienten hörte, die unter einer Depression litten. Sie wurde von vielen als Krankheit zweiter Klasse etikettiert. Niemand konnte und mochte sich vorstellen, wie es ist, wenn die Dämonen in einem wüten und der Kranke sich selbst nicht wiedererkennt.
„Heute wird das Krankheitsbild nicht nur viel besser von der Gesellschaft akzeptiert, die Menschen sind auch aufgeklärter. Das liegt sicher auch daran, dass die Erkrankungen mehrerer prominenter Beispiele öffentlich geworden sind“, sagt Renate Jackstadt, Oberärztin für Allgemeinpsychiatrie am Alexius/Josef-Krankenhaus in Neuss. Sie kennt viele Krankheitskarrieren, „vor allem die von Robert Enke, der sich das Leben nahm. Aber auch Skisprungstar Sven Hannawald oder Fußballprofi Sebastian Deisler litten an Depressionen – beide beendeten ihre Karrieren. Andere Prominente wie Selena Gomez, Thorsten Sträter oder Julia Roberts sprechen ebenfalls offen über ihre Krankheit.“All dies hat das öffentliche Bewusstsein verändert. „Es trauen sich mehr Menschen auch abseits des Rampenlichts, sich behandeln zu lassen.“
Aktuelle Daten der Bundesregierung stützen diese Tendenz. Demnach haben psychische Erkrankungen die Atemwegserkrankungen als zweithäufigste Ursache für Krankmeldungen abgelöst. Fast 98 Millionen Krankheitstage waren 2017 auf psychische Leiden zurückzuführen, das entspricht einem Zuwachs von 144 Prozent seit 2008.
Diese Zahl mag einen erschüttern. Macht der Alltag uns kranker, als das früher der Fall war? Nicht unbedingt. „Nicht die Häufigkeit der Erkrankung ist gestiegen, sondern die Diagnose wird häufiger gestellt“, sagt Jackstadt. Es sind schlicht mehr Leute zum Arzt gegangen als früher.
Der Kenntnisstand ist nicht nur durch die Medien und das Internet stärker ins Wissen der Bevölkerung eingesickert, auch auf ärztlicher Ebene ist der Kompetenzzuwachs größer denn je. Jackstadt berichtet: „Depressionsnetzwerke, an denen Hausärzte, Psychiater und Psychotherapeuten teilnehmen, haben dazu geführt, dass die Sensibilität für die Symptome allseits geschärft wird.“
Dass sich Betroffene früh an einen Arzt wenden, ist gerade bei Depressionen wichtig.„Je früher eine Behandlung erfolgt, umso größer sind die Chancen auf eine Heilung“, rät Arno Deister, der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde. Depressive Erkrankungen, so Deister, verlaufen meistens in Phasen über mehrereWochen, manchmal auch Monate. Oft tritt im Erkrankungsverlauf mehr als eine depressive Episode auf.
Eine Gesellschaft, die Erkrankungen akzeptiert, die nicht im Blut- oder auf dem Röntgenbild zu sehen sind, ist der ideale Boden für ein therapeutisch gesundes Klima. Das gilt vor allem für das unmittelbare Umfeld eines Erkrankten: Wer sich schlaumacht, wie man einen Kranken begleitet, kann diesem eine große Hilfe sein. Denn unter dem bleiernen Umhang der Krankheit ist der klare Blick auf die Realität nicht selten verstellt. Umso wichtiger ist Aufklärung.
„Für die Betroffenen ist es hilfreich, einVerständnis für ihre Symptomatik zu entwickeln“, erklärt Deister. „Sie können sich aktiver in ihre Therapie einbringen, was Ängste abbaut und Zuversicht schafft.“Sie erleben eine höhere „Selbstwirksamkeit“; dieses psychologische Konzept, das in den 70er Jahren von dem Psychologen Albert Bandura entwickelt wurde, gilt auch in der Behandlung von Depressionen.
Nach wie vor halten sich in der Gesellschaft irrige Meinungen über Medikamente, die bei einer Depression verordnet werden können. Ein Psychiater wird ein Medikament zur Anhebung der Stimmung (Antidepressivum) in der Regel dann verschreiben, wenn zumindest eine mittelschwere oder schwere Depression vorliegt. „Davon spricht man, wenn der Patient mindestens zwei Hauptsymptome wie Stimmungstief, Antriebsmangel, Freudoder Interessenlosigkeit sowie drei Nebensymptome wie etwa Schlaflosigkeit, Konzentrationsstörungen, Minderwertigkeitsgefühle oder anderes länger als 14 Tage aufweist“sagt der Mönchengladbacher Psychiater Jürgen Vieten.
Es gibt eine Reihe möglicher Medikamente, alle sind statistisch ungefähr gleich erfolgreich, zur Abhängigkeit führt keines. „Dass sich dieser Irrtum bis heute hält, hängt damit zusammen, dass viele Menschen Antidepressiva mit angstlösenden Mitteln, also Anxiolytika, verwechseln“, klärt Vieten auf. Diese (wie etwa Tavor oderValium) können bereits nach zwei bis sechs Wochen abhängig machen. Allerdings muss längst nicht jede Depression mit Tabletten behandelt werden; nicht selten hilft auch eine kognitive Verhaltenstherapie.
Dass Menschen offener mit Depressionen umgehen, ist begrüßenswert. Dennoch fällt es immer noch vielen leichter, sich mit einer Erkältung oder einem Hexenschuss anstatt bei einer Depression krankzumelden. Die Rückenschmerzen wurden ihm auf den MRT-Bildern erklärt. Für eine Depression gibt es keine Bilder, die ein anderer sehen könnte. Sie sind in einem selbst.
Auch die Hausärzte kennen sich mit frühen Symptomen der Krankheit besser aus