Bergsteiger mit neuer Lunge
Eine unheilbare Krankheit hat Jan Klatts Lunge zerstört. Vor zwei Jahren bekam der 41-Jährige aus Mönchengladbach ein Spenderorgan transplantiert – und hat damit den höchsten Berg Nordafrikas bestiegen.
MÖNCHENGLADBACH Als er den wahrscheinlich wichtigsten Anruf seines Lebens erhält, liegt Jan Klatt im Krankenhaus. Es ist vier Tage vor Heiligabend, der 41-Jährige aus Mönchengladbach telefoniert gerade mit seiner Freundin – da klopft jemand anderes in der Leitung an. Die Stimme am Telefon sagt ihm, dass es soweit ist. Später wird Jan Klatt erzählen, wie seltsam dieser Moment für ihn war. In diesem Moment wird ihm klar, dass er einen Teil seines Körpers wegwerfen wird: seine Lunge, mit der er so viele Jahre gelebt hat, aber mit der er nicht mehr weiterleben kann, weil eine unheilbare Krankheit sie zerstört hat. Das neue Organ wird er von einem Menschen bekommen, von dem er niemals etwas erfahren wird. Nur, dass seine Lunge gesund war.
Innerhalb weniger Stunden wird in den letzten Tagen des Jahres 2017 ein komplizierter Eingriff vorbereitet. Die Identität des Spenders bleibt geheim. So sieht es das Transplantationsgesetz in Deutschland vor. Kurz nach dem Anruf wird der damals 40-Jährige in die Essener Uniklinik gebracht.„Natürlich hatte ich da auch Angst“, sagt Jan Klatt heute. Es kann vorkommen, dass Patienten vergeblich in den OP-Saal gebracht werden – trotz aller Voruntersuchungen und Prüfung des Spenderorgans sehen die Ärzte erst vor Ort, ob es tatsächlich passt.
Doch alles geht gut. Sein Körper nimmt das neue Organ an. Es dauert viele Wochen, bis Klatt sich von dem Eingriff erholt, viele weitere, bis er ins normale Leben zurückfindet. Knapp 20 Monate nach der Transplantation ist er bereit für ein Abenteuer – ungewöhnlich für jemanden, der bis vor Kurzem noch fürchten musste, jeder Atemzug könnte der letzte sein. Jan Klatt reist nach Marokko und besteigt den mit 4167 Metern höchsten Berg Nordafrikas: den Jebel Toubkal. Für den Aufstieg brauchen erfahrene Bergsteiger zwei Tage. Klatt bleibt eine Woche.
Dass er diese Reise antreten kann, schien lange unmöglich. Der 41-Jährige ist – so nennt er sich selbst – ein Muko. Das steht für Mukoviszidose, eine seltene und unheilbare Stoffwechselerkrankung. Sekrete im Körper sind zäher, Schleim verstopft die Lunge und befällt den Verdauungstrakt. In Deutschland gibt es etwa 8000 Patienten. Klatt hat die Krankheit von Geburt an. Bis zu seinem 20. Lebensjahr lebt er fast ohne Einschränkungen: Er spielt Hockey und arbeitet im Sparkassenpark in Mönchengladbach. „Ungefähr mit Anfang 20 fing es schleichend an, deutlich schlechter zu werden.“
Das Atmen fiel dem Gladbacher dann immer schwerer, das Gehen auch, das Laufen sowieso. Irgendwann konnte Jan Klatt sich nur noch ein paar Meter weit bewegen, bis ihm die Puste ausging. „Man sitzt dann auf der Bettkante und fragt sich jedes Mal, ob man den nächsten Atemzug noch schafft“, sagt er. Erst mit Mitte 30, als gar nichts mehr ging, ließ er sich auf eine Warteliste für ein Spenderorgan setzen. Bis dahin hatte er versucht, irgendwie damit klar zu kommen. Er lebte lieber das Leben, als sich Gedanken zu machen, wann es vorbei sein könnte. Aber dann wurde eine neue Lunge die letzte Hoffnung. Und er hatte Glück. Sein Zustand war gerade schlecht genug, aber nicht zu schlecht, um schnell ein Spenderorgan zu erhalten.
Den Eingriff nahm Clemens Aigner vor. Er ist Direktor der Abteilung Thoraxchirurgie an der Ruhrlandklinik Essen. Aigner hat seinen Patienten auch auf der Reise nach Afrika begleitet. „Wir wollen damit zeigen, wie viel Lebensqualität auch mit einer transplantierten Lunge möglich ist“, sagt Aigner. „Die Tour war anspruchsvoll, aber Herr Klatt hat den nötigen Drive mitgebracht.“Menschen aus ganz Europa, alle mit einer transplantierten Lunge, waren dabei. Alle wollten auf den Gipfel. Die Ärzte maßen während der Tour die Vitalwerte und wollten so herausfinden, wie belastbar die Patienten sind. Der Jebel Toubkal hat Jan Klatt an seine Grenzen gebracht. Eine Woche war er in Marokko unterwegs, sechs Tage lang, täglich rauf und runter, zwischen fünf und 13 Stunden am Tag. Er dachte ans Aufgeben, immer wieder. Aber er blieb. Und er schaffte es auf den Gipfel.
Wie lange Klatt nun unbeschwert leben kann, wissen die Ärzte nicht. Die neue Lunge kann in der Regel nicht mehr von Mukoviszidose infiziert werden, aber die Krankheit verursacht überall im Körper Schäden. Die Galle wird gestört, die Leber, der Darm, Knochen brechen häufiger, das Blut ist überzuckert. Den Hinterbliebenen des Spenders will er einen Brief schreiben. Darin darf er nicht erkennbar sein, und bevor er zugestellt wird, liest ihn ein Mitarbeiter der Deutschen Stiftung für Organtransplantation. Aber Jan Klatt will ein paar Worte sagen.
Und vor allem: Danke. „Sie sollen wissen, dass alles nicht umsonst war.“