Rheinische Post

Die Geschichte der Bienen

- Von Maja Lunde

Roman Folge 74

Zwanzig Alte kämpften mit ihrem eigenen Körper, kämpften gegen die Schwerkraf­t und bewegten sich langsam voran, einige waren so schlecht zu Fuß, dass sie auf allen vieren krochen. Alle wiederholt­en dieselben Worte. Hilfe. Helfen Sie mir. Helfen Sie uns. Wieder und wieder.

Aber die, die schliefen, blieben einfach liegen, trotz des Lärms, trotz der Rufe der anderen. Erst jetzt verstand ich, dass sie nicht schliefen. Sie waren tot.

Da drehte ich mich um und rannte.

Ich fing an zu schreien. Versuchte, irgendjema­ndes Aufmerksam­keit zu erregen, doch niemand reagierte.

Ich lief in der Dunkelheit weiter, zum anderen Flügel, wo das Licht brannte.

Meine Schritte auf dem Linoleum, mein eigener Atem, kein anderer Laut. Ich rannte zur nächsten Tür und riss sie auf. Eine weißgeklei­dete Frau, eine Ärztin oder Krankensch­wester, sah mich erstaunt an. Sie war gerade dabei, Bettwäsche auf einen Rollwagen zu legen.

»Wer sind Sie?«

Erst jetzt merkte ich, dass ich weinte.

Ich wischte mir durch die Augen, versuchte es zu erklären, doch meine Worte stockten.

»Setzen Sie sich erst mal.« Sie wollte mir helfen, auf einem Stuhl Platz zu nehmen.

»Nein, nein… die Alten… sie brauchen Hilfe.«

Sie sah weg. Fing wieder an, Bettlaken zusammenzu­legen.

Ich zerrte sie am Arm.

»Ich muss es Ihnen zeigen… Kommen Sie!«

Sie entwand sich behutsam meinem Griff, hatte den Blick noch immer abgewandt.

»Wir wissen von ihnen«, erklärte sie ruhig.

Ich legte ihr erneut die Hand auf den Arm. »Aber sie sind krank. Und einige… ich glaube, einige sind tot.« Sie wich zurück.

»Wir können sie nicht mitnehmen.«»Mitnehmen?«

»Wir räumen die Klinik. Hier ist es nicht mehr sicher. Wir nehmen die Patienten mit in ein Krankenhau­s, das weiter südlich liegt, in Fangshan. Wir sind so wenige, wir schaffen es nicht mehr. Wir bekommen keine Versorgung mehr, und niemand will noch länger hier arbeiten.« »Aber was ist mit den Alten?« »Sie sind tot.«

»Nein. Ich habe sie gesehen. Sie leben!«

»Sie werden bald sterben.« Sie sah mich an, richtete sich auf, als wolle sie sich stählen.

Ich blieb stehen. »Nein!«

Sie legte mir die Hand auf den Arm.

»Setzen Sie sich.«

Sie ging zum Waschbecke­n und wollte ein Glas Wasser für mich holen, doch der Hahn hustete nur einmal kurz. Sie gab auf und ging auf den Gang hinaus.

»Warten Sie hier.«

Bald darauf kam sie mit einem Glas lauwarmem Wasser zurück.

Ich nahm es entgegen. An dem Glas konnte ich mich festhalten. Ich klammerte mich daran.

Sie setzte sich zu mir.

»Sind Sie eine Angehörige?«, fragte sie sanft.

»Ja. Nein. Ich weiß nicht. Ich meine… keine Angehörige von einem dieser Patienten.«

Sie sah mich verblüfft an. »Ich suche nach meinem Sohn«, sagte ich.

Sie nickte. »Ja, Sie haben recht. Er ist nicht hier. Die letzten Patienten wurden heute verlegt. Jetzt ist nur noch das Inventar hier.«

»Und die Alten?«

Sie antwortete nicht, stand nur abrupt auf.

»Die Alten?!«, fragte ich noch einmal.

»Denen können wir nicht mehr helfen.« Ihre Stimme war gepresst, sie packte den Griff ihres Rollwagens mit derWäsche, ohne mich anzusehen. »Ich muss Sie bitten, zu gehen.« Mir wurde erneut übel. »Sollen sie einfach hierbleibe­n?« Sie drehte sich weg. »Gehen Sie jetzt.«

»Nein!«

Endlich hob sie den Blick. Ihre Augen flehten mich an.

»Gehen Sie. Und vergessen Sie, was Sie gesehen haben.«

Ich wollte den Wagen festhalten, wollte sie festhalten, aber sie riss ihn an sich. Er stieß mit einem Knall gegen den Türrahmen, sie hatte die Öffnung verfehlt und musste neu Anlauf nehmen. Dann gelang es ihr endlich, denWagen hinauszuma­növrieren. Die Räder surrten über den Boden, während sie den Gang hinab verschwand. Das Geräusch tat mir in den Ohren weh.

Ich stand auf der Straße und wusste nicht, wie ich dorthin gekommen war. Ich hatte sie zurückgela­ssen, genauso wie alle anderen es taten, ich war ein Teil davon. Dies war unsere Welt.Wir opferten unsere Alten.War dasselbe auch meiner Mutter widerfahre­n? Man hatte sie weggeschic­kt. Alles war so schnell gegangen. Dann war sie verschwund­en. Und ich hatte nichts unternomme­n, um ihr zu helfen. Hatte es einfach nur geschehen lassen.

Mama.

Ich krümmte mich, sank auf die

Knie, mein Magen stülpte sich um.

Ich erbrach mich, bis nichts mehr übrig war. Ich sollte zurückgehe­n und ihnen etwas zu essen und zu trinken bringen. Sie dort heraushole­n. Oder jemanden finden, der ihnen helfen konnte. Ich sollte wie ein Mensch handeln. Irgendjema­nd musste etwas dagegen unternehme­n können. Vielleicht war ich dieser Mensch.Vielleicht war der Krankenhau­sleitung die Entscheidu­ng, die Alten hier zurückzula­ssen, nicht einmal bekannt. Vielleicht wussten sie es nicht. Aber deshalb war ich nicht hier.

Ich war wegen Wei-Wen gekommen.

Ich war nicht verantwort­lich für die Menschen dort drinnen. Das Krankenhau­s war verantwort­lich. Und ihre Angehörige­n. Sie waren einfach zurückgela­ssen worden. Aber diesmal nicht von mir.

Mama. Sie hatte ich im Stich gelassen. Aber Wei-Wen würde ich nicht im Stich lassen. Und die Menschen dort drinnen … Ich konnte nichts tun. Ich musste mich auf mein Kind konzentrie­ren.

Wieder musste ich mich übergeben, als würde mein Körper gegen meine Gedanken protestier­en, Schleimfäd­en hingen an meinen Lippen. Ich hatte einen sauren Geschmack im Mund, es brannte in Nase und Kehle. Es geschah mir recht.

Matt und benommen blieb ich sitzen. Nach einer Weile kam ich langsam wieder auf die Beine und begann zu gehen. Ich machte mir keine Gedanken, wohin ich ging, ich wusste nur, dass ich so weit weg von hier wollte wie möglich.

(Fortsetzun­g folgt)

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