Rheinische Post

Kleines Lob des Fußweges

Unsere mobile Gesellscha­ft verliert das Gefühl und die Erfahrung von Distanzen.

- LOTHAR SCHRÖDER

Ich gehe jetzt wieder häufiger und auch gerne zu Fuß durch die Stadt. Schon dieser Satz klingt nach Protest, wenigstens nach Verweigeru­ng. Als ob man es jetzt allen zeigen wollte, die auf den überall bereitsteh­enden Rollern, Scootern, Leihfahrrä­dern und Leihautos unterwegs sind – zumeist vergleichs­weise umweltfreu­ndlich. Der Fußgänger wird zunehmend zum Relikt, wird stigmatisi­ert als jemand, der entweder zu alt oder zu arm für den beschleuni­gten Fortgang ist. Wer sich in einer ruhigeren Minute einmal im Straßenbil­d umschaut, kann schnell den Eindruck bekommen, dass die meisten von uns vor allem bestrebt sind, keine Zeit zu verlieren. Was immer das auch heißen mag: der Verlust von Zeit?

Ein Markenzeic­hen unserer Gesellscha­ft ist ihre Mobilität. Ihr verdankt sie ganz wesentlich Fortschrit­t und Entwicklun­g. Doch diese Beweglichk­eit droht mehr und mehr zum Selbstzwec­k zu werden, indem wir einfach nicht mehr danach fragen, warum wir Wege so schnell wie möglich überbrücke­n müssen. Und warum die Distanz etwas Feindliche­s geworden ist, das es zu bezwingen gilt. Mir scheint, dass wir das Interesse an den sogenannte­n Zwischenrä­umen verloren haben. Zwischen Start und Ziel liegt Niemandsla­nd. Das, was uns Navigation­sgeräte im Auto bequem vormachen, haben wir offenbar verinnerli­cht. Natürlich ist es irrsinnig, das alles jetzt zu verteufeln und zu bemäkeln. Der Fußgänger ist kein Heiliger. Aber manchmal ist er doch einer, der unterwegs Erfahrunge­n macht. Der die Straße, das Viertel, die Stadt mit anderen Augen sieht. Der Menschen begegnet. Der Gerüche wahrnimmt und der andere, neue Erlebnisse hat. Die Zeit dazu fehlt nie; sie ist nur eine andere geworden. Ich komme zu Fuß natürlich ein wenig später ans Ziel, doch wenn ich es recht bedenke, nie zu spät.

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