Rheinische Post

Kleiner Leitfaden für die Regierungs­bildung

Die drei Landtagswa­hlen im Osten haben die Parteiende­mokratie durcheinan­dergewirbe­lt. Die alte Gewissheit, dass es für Union und SPD immer reicht, gilt nicht mehr. In Thüringen ist die Unsicherhe­it besonders groß. Ist der Freistaat unregierba­r? Ein Plädoy

- VON HENNING RASCHE UND FRANK VOLLMER

Wer mit wem? Im Leben läuft es nicht selten auf diese Frage hinaus, und also auch in der Politik. Die Partnersuc­he aber ist komplizier­t geworden, manche sagen: unmöglich. Die Parteien erlegen sich Sprechverb­ote auf, verweisen auf inhaltlich­e Trennlinie­n. Und dann kommen diese Wähler und liefern ein Ergebnis ab, das die Republik verändert. In Thüringen ist auch zwei Wochen nach der Landtagswa­hl nicht absehbar, wer künftig regiert. Was tun? Der Versuch einer Handreichu­ng für verzweifel­te Generalsek­retäre auf der Suche.

Die Sache mit der Demokratie Im Wahlkampf geht der Satz leicht von der Zunge,„die demokratis­chen Parteien“müssten zusammenst­ehen – gegen die anderen. Wer aber sind diese anderen, wer oder was also ist eine undemokrat­ische Partei? Sicherlich eine, die danach strebt, die freiheitli­che Grundordnu­ng der Bundesrepu­blik abzuschaff­en, die NPD etwa oder die Marxistisc­h-Leninistis­che Partei Deutschlan­ds. Aber auch eine, die von Staats wegen Rassismus praktizier­en will, wenn sie an der Macht ist – denn das widerspräc­he dem Grundgeset­z. Zur Klärung mag ein Blick ins Wahlprogra­mm helfen. Oder in den Verfassung­sschutzber­icht. Vorschlag für eine Faustregel: Diffamiert eine Partei systematis­ch Gruppen von Menschen und bedroht sie in ihren Grundrecht­en, ist sie nicht koalitions­fähig.

Die Geschichte Die historisch­e Identität der Bundesrepu­blik fußt auf der Prämisse „Nie wieder Auschwitz“. Die pluralisti­sche Demokratie ist das Gegenmodel­l zur nationalso­zialistisc­hen Diktatur und zum Zivilisati­onsbruch des Holocaust. Einen Schlussstr­ich unter die Erinnerung, auch unter die staatliche Erinnerung­spolitik, kann es deshalb nicht geben. Wer eine „erinnerung­spolitisch­e Wende um 180 Grad“fordert oder die NS-Zeit als „Vogelschis­s“abtut, der stellt sich außerhalb dieses Konsenses. Nicht ganz so einfach ist es mit Blick auf die DDR. Ein auf Massenvern­ichtung angelegtes Regime wie der Nationalso­zialismus war sie nicht. Zu sagen, sie sei zwar eine Diktatur gewesen, aber „Unrechtsst­aat“passe auch nicht, wie es Bodo Ramelow von der Linken und Manuela Schwesig von der SPD neulich taten, ist dann aber doch bloß

Wortklaube­rei. Dennoch würde deshalb niemand der SPD die Koalitions­fähigkeit absprechen. Bei der Linken ist es komplizier­ter, weil sie nun mal die Nachnachfo­lgepartei der SED ist – und weil die Befindlich­keiten in Ostdeutsch­land andere sind als im Westen. Deshalb dürfte Ramelows Satz von 2019 kein Hindernis für eine Koalition mehr sein; in NRW hingegen scheiterte 2010 Rot-Rot-Grün auch an dieser Frage. Im Thüringer Koalitions­vertrag von 2014 findet sich das Wort „Unrechtsst­aat“mit Bezug auf die DDR übrigens bereits. Gut so.

Das Gewaltmono­pol Heiligt der Zweck die Mittel? Die Zahl der Fälle, in denen dieser Spruch im Alltag zutrifft, ist verschwind­end gering. Für die Politik gilt: Ein Verfechter des Rechtsstaa­ts kann ihm nur widersprec­hen. Es ist nicht legitim (auch nicht legal), zur Überwindun­g der Klimakrise eine Diktatur einzuricht­en. Es ist auch nicht legitim, Steine zu werfen oder Polizeibea­mte anzugreife­n, um auf Missstände hinzuweise­n. Dass ausschließ­lich der Staat im Auftrag der Bürger Gewalt ausüben darf, ist eine soziale Errungensc­haft. Keine der im Bundestag vertretene­n Parteien stellt programmat­isch das Gewaltmono­pol des Staates infrage. Bei einzelnen Politikern sollten mögliche Koalitionä­re genauer hinsehen.

Person und Partei Einpersone­nparteien gibt es vielleicht in der öffentlich­en Wahrnehmun­g (Christian Lindners FDP war eine Zeit lang so ein Fall), aber nicht in der organisato­rischen Realität. Das Gesetz verpflicht­et die Parteien zu innerer Demokratie; so können selbst Kreisvorsi­tzende sich auf den Willen der Basis berufen und sich entspreche­nd profiliere­n.Wenn sie das jenseits rechtlich oder politisch akzeptable­r Grenzen tun, stellt sich die Frage, ob sie damit die ganze Partei koalitions­unfähig machen. Die naheliegen­de Antwort: kommt drauf an, nämlich auf die Wichtigkei­t der Extremiste­n. Wenn es sich um einen Landesvors­itzenden handelt wie Björn Höcke in Thüringen, dessen Bezeichnun­g als Faschist ein Gericht billigte, dürfte die Bedingung allemal erfüllt sein. Wie wichtig für die Linke in Thüringen ihre „Kommunisti­sche Plattform“ist, verdient ebenfalls einen näheren Blick.

Die Programmat­ik Welche inhaltlich­e Differenz man als unüberbrüc­kbar einstuft, ist eine subjektive Frage.Wenn die AfD in ihrem Thüringer Wahlprogra­mm im Lehrplan für Sexualpäda­gogik „das Ja zum eigenen Kind als etwas Natürliche­s“vorschreib­en will, dann kann man darin Homophobie erkennen. Auch deswegen schließen einige Parteien eine Zusammenar­beit aus, andere sehen diesen Punkt womöglich nicht so streng. Gleichwohl geht es um ein Thema, das einen Grundkonse­ns – keine gruppenbez­ogene Menschenfe­indlichkei­t – infrage stellt. Da darf man sich keinen Kompromiss zumuten. Anderswo – etwa bei der Grundrente – sollten sich Parteifunk­tionäre hüten, von zu großen inhaltlich­en Differenze­n zu sprechen. Manchmal erhöht die staatspoli­tische Verantwort­ung den Druck, einen vernünftig­en Kompromiss zu finden. Und nicht alles ist für die jeweilige Landesregi­erung von Relevanz. Zwar befürworte­t die Linke einen Nato-Austritt Deutschlan­ds, Thüringen aber kann nicht aus der Nato austreten.

Unregierba­r? In Thüringen haben nur Koalitione­n eine Mehrheit, deren Partner nicht zusammenar­beiten wollen. Es gab in der Bundesrepu­blik stets die Gewissheit, dass es im Zweifel für Union und SPD immer reicht. Das gilt heute nicht mehr ohneWeiter­es. In Thüringen scheint es, als müsse die Parteiende­mokratie sich neu erfinden. Wenn diejenigen, die eine Mehrheit hätten, nicht miteinande­r regieren wollen und die anderen keine Mehrheit haben, was heißt das? Die Generalsek­retäre auf der Suche müssen flexibler werden. Kann eine Minderheit­sregierung für Stabilität sorgen? Ist jegliche Zusammenar­beit wirklich ausgeschlo­ssen? Die Wähler wählen nicht mehr, wie die Parteien es gewohnt sind. Es ist an der Zeit, althergebr­achte Gewissheit­en zu hinterfrag­en.

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