Kleiner Leitfaden für die Regierungsbildung
Die drei Landtagswahlen im Osten haben die Parteiendemokratie durcheinandergewirbelt. Die alte Gewissheit, dass es für Union und SPD immer reicht, gilt nicht mehr. In Thüringen ist die Unsicherheit besonders groß. Ist der Freistaat unregierbar? Ein Plädoy
Wer mit wem? Im Leben läuft es nicht selten auf diese Frage hinaus, und also auch in der Politik. Die Partnersuche aber ist kompliziert geworden, manche sagen: unmöglich. Die Parteien erlegen sich Sprechverbote auf, verweisen auf inhaltliche Trennlinien. Und dann kommen diese Wähler und liefern ein Ergebnis ab, das die Republik verändert. In Thüringen ist auch zwei Wochen nach der Landtagswahl nicht absehbar, wer künftig regiert. Was tun? Der Versuch einer Handreichung für verzweifelte Generalsekretäre auf der Suche.
Die Sache mit der Demokratie Im Wahlkampf geht der Satz leicht von der Zunge,„die demokratischen Parteien“müssten zusammenstehen – gegen die anderen. Wer aber sind diese anderen, wer oder was also ist eine undemokratische Partei? Sicherlich eine, die danach strebt, die freiheitliche Grundordnung der Bundesrepublik abzuschaffen, die NPD etwa oder die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands. Aber auch eine, die von Staats wegen Rassismus praktizieren will, wenn sie an der Macht ist – denn das widerspräche dem Grundgesetz. Zur Klärung mag ein Blick ins Wahlprogramm helfen. Oder in den Verfassungsschutzbericht. Vorschlag für eine Faustregel: Diffamiert eine Partei systematisch Gruppen von Menschen und bedroht sie in ihren Grundrechten, ist sie nicht koalitionsfähig.
Die Geschichte Die historische Identität der Bundesrepublik fußt auf der Prämisse „Nie wieder Auschwitz“. Die pluralistische Demokratie ist das Gegenmodell zur nationalsozialistischen Diktatur und zum Zivilisationsbruch des Holocaust. Einen Schlussstrich unter die Erinnerung, auch unter die staatliche Erinnerungspolitik, kann es deshalb nicht geben. Wer eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“fordert oder die NS-Zeit als „Vogelschiss“abtut, der stellt sich außerhalb dieses Konsenses. Nicht ganz so einfach ist es mit Blick auf die DDR. Ein auf Massenvernichtung angelegtes Regime wie der Nationalsozialismus war sie nicht. Zu sagen, sie sei zwar eine Diktatur gewesen, aber „Unrechtsstaat“passe auch nicht, wie es Bodo Ramelow von der Linken und Manuela Schwesig von der SPD neulich taten, ist dann aber doch bloß
Wortklauberei. Dennoch würde deshalb niemand der SPD die Koalitionsfähigkeit absprechen. Bei der Linken ist es komplizierter, weil sie nun mal die Nachnachfolgepartei der SED ist – und weil die Befindlichkeiten in Ostdeutschland andere sind als im Westen. Deshalb dürfte Ramelows Satz von 2019 kein Hindernis für eine Koalition mehr sein; in NRW hingegen scheiterte 2010 Rot-Rot-Grün auch an dieser Frage. Im Thüringer Koalitionsvertrag von 2014 findet sich das Wort „Unrechtsstaat“mit Bezug auf die DDR übrigens bereits. Gut so.
Das Gewaltmonopol Heiligt der Zweck die Mittel? Die Zahl der Fälle, in denen dieser Spruch im Alltag zutrifft, ist verschwindend gering. Für die Politik gilt: Ein Verfechter des Rechtsstaats kann ihm nur widersprechen. Es ist nicht legitim (auch nicht legal), zur Überwindung der Klimakrise eine Diktatur einzurichten. Es ist auch nicht legitim, Steine zu werfen oder Polizeibeamte anzugreifen, um auf Missstände hinzuweisen. Dass ausschließlich der Staat im Auftrag der Bürger Gewalt ausüben darf, ist eine soziale Errungenschaft. Keine der im Bundestag vertretenen Parteien stellt programmatisch das Gewaltmonopol des Staates infrage. Bei einzelnen Politikern sollten mögliche Koalitionäre genauer hinsehen.
Person und Partei Einpersonenparteien gibt es vielleicht in der öffentlichen Wahrnehmung (Christian Lindners FDP war eine Zeit lang so ein Fall), aber nicht in der organisatorischen Realität. Das Gesetz verpflichtet die Parteien zu innerer Demokratie; so können selbst Kreisvorsitzende sich auf den Willen der Basis berufen und sich entsprechend profilieren.Wenn sie das jenseits rechtlich oder politisch akzeptabler Grenzen tun, stellt sich die Frage, ob sie damit die ganze Partei koalitionsunfähig machen. Die naheliegende Antwort: kommt drauf an, nämlich auf die Wichtigkeit der Extremisten. Wenn es sich um einen Landesvorsitzenden handelt wie Björn Höcke in Thüringen, dessen Bezeichnung als Faschist ein Gericht billigte, dürfte die Bedingung allemal erfüllt sein. Wie wichtig für die Linke in Thüringen ihre „Kommunistische Plattform“ist, verdient ebenfalls einen näheren Blick.
Die Programmatik Welche inhaltliche Differenz man als unüberbrückbar einstuft, ist eine subjektive Frage.Wenn die AfD in ihrem Thüringer Wahlprogramm im Lehrplan für Sexualpädagogik „das Ja zum eigenen Kind als etwas Natürliches“vorschreiben will, dann kann man darin Homophobie erkennen. Auch deswegen schließen einige Parteien eine Zusammenarbeit aus, andere sehen diesen Punkt womöglich nicht so streng. Gleichwohl geht es um ein Thema, das einen Grundkonsens – keine gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit – infrage stellt. Da darf man sich keinen Kompromiss zumuten. Anderswo – etwa bei der Grundrente – sollten sich Parteifunktionäre hüten, von zu großen inhaltlichen Differenzen zu sprechen. Manchmal erhöht die staatspolitische Verantwortung den Druck, einen vernünftigen Kompromiss zu finden. Und nicht alles ist für die jeweilige Landesregierung von Relevanz. Zwar befürwortet die Linke einen Nato-Austritt Deutschlands, Thüringen aber kann nicht aus der Nato austreten.
Unregierbar? In Thüringen haben nur Koalitionen eine Mehrheit, deren Partner nicht zusammenarbeiten wollen. Es gab in der Bundesrepublik stets die Gewissheit, dass es im Zweifel für Union und SPD immer reicht. Das gilt heute nicht mehr ohneWeiteres. In Thüringen scheint es, als müsse die Parteiendemokratie sich neu erfinden. Wenn diejenigen, die eine Mehrheit hätten, nicht miteinander regieren wollen und die anderen keine Mehrheit haben, was heißt das? Die Generalsekretäre auf der Suche müssen flexibler werden. Kann eine Minderheitsregierung für Stabilität sorgen? Ist jegliche Zusammenarbeit wirklich ausgeschlossen? Die Wähler wählen nicht mehr, wie die Parteien es gewohnt sind. Es ist an der Zeit, althergebrachte Gewissheiten zu hinterfragen.