Verblüffend leise Töne
Der FC Bayern München und Borussia Dortmund sind zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um einander zu attackieren.
MÜNCHEN Hans-Joachim Watzke ist ein großer Skeptiker. Einer, der noch bei einer 3:0-Führung der eigenen Mannschaft ängstlich auf die Stadionuhr schaut und den Schlusspfiff herbeisehnt, der Stunden vor einem Spiel alle möglichen grausigen Szenarien vor dem inneren Auge vorbeiziehen sieht und der während des Spiels von einer Verzweiflung in die andere fällt. Ein ganz normaler Fußball-Fan eben. Das hat der Geschäftsführer von Borussia Dortmund in seiner gerade erschienenen Autobiografie „Echte Liebe“pünktlich zur Frankfurter Buchmesse einem größeren Publikum verraten.
Deshalb ist es schon bemerkenswert, dass Watzke vor dem Bundesliga-Spitzenspiel bei Bayern München leise Töne der Zuversicht von sich gibt. Nach der Aufholjagd gegen Inter Mailand in der Champions League, als der BVB einen 0:2-Pausen-Rückstand in ein 3:2 verwandelte, sagte er: „Das gibt uns ein bisschen Rückenwind für Samstag.“In die Sprache herzhafter Berufs-Optimisten übersetzt: „So rennen wir auch die Bayern um.“In der inneren Führung des BVB gibt es aber derartige Lautsprecher nicht. Sportdirektor Michael Zorc hält sich mit öffentlichen Einschätzungen gern zurück, Trainer Lucien Favre belässt es meist dabei, kommende Aufgaben mit leiser Stimme und gequälter Miene als „sehr, sehr schwer“zu bezeichnen. Und Mannschaftskapitän Marco Reus hat in jüngerer Vergangenheit mehr mit vielen kleinen Verletzungen zu tun als mit großen Ansagen ans Fußballvolk.
Es könnte durchaus sein, dass Reus fehlen wird beim Treffen der beiden Mannschaften, die ganz Fußball-Deutschland vor der Saison auf einem gemeinsamen Durchmarsch vor dem bedauernswerten Rest der Liga sah, die aber nach zehn Spieltagen immer noch nur Verfolger des Überraschungs-Spitzenreiters Borussia Mönchengladbach sind.
Die Bayern haben an dieser Last deutlich schwerer zu tragen. Während die Dortmunder sich in den vergangenen Wochen nicht nur gegen Mailand ein wenig befreit haben und die Diskussionen um den ebenso liebenswürdigen wie zaudernden Trainer-Zausel Favre mal wieder verstummt sind, brennt bei den Münchnern spätestens seit der 1:5-Niederlage bei Eintracht Frankfurt so richtig der Baum. Erster Leidtragender einer fußballerischen Krise, die sich in Frankfurt auch im Ergebnis niederschlug, war Trainer Niko Kovac, der gehen musste. Zunächst steht sein ehemaliger Assistent Hansi Flick in der Verantwortung – zumindest bis zum Spitzenspiel am Samstag.
Es kennzeichnet die Bayern-Krise vielleicht mehr als jedes Ergebnis, dass die Suche nach einem prominenten Nachfolger von einer Absage zur nächsten führt. Der erklärte
Wunschkandidat Erik ten Hag hat in einer Pressekonferenz erklärt, dass er denWeg mit Ajax Amsterdam weitergehen wolle und vorerst nicht zur
Verfügung stehe. Ralf Rangnick, im Augenblick Manager zwischen allen Welten des Red-Bull-Fußball-Konzerns, ließ über seinen Berater mitteilen, dass seine besonderen Fähigkeiten wohl nicht die seien, die der FC Bayern im Herbst 2019 benötige. Und Thomas Tuchel, der Coach von Paris St. Germain, erklärte lapidar, er sei „nicht interessiert“.
Es ist kein Wunder, dass sich der Rekordmeister eine Flut an Absagen einhandelt, denn auch mögliche Wunschtrainer haben Augen und Ohren. Sie haben vor allem in jüngerer Vergangenheit das unheilvolle Wirken der beiden Münchner Führungsfiguren erleben können. Karl-Heinz Rummenigge und Uli Hoeneß blockieren den Klub durch ihre offenkundigen Meinungsverschiedenheiten und den Anspruch, die jeweils allein gültige
Wahrheit zu vertreten. Beide stehen vor dem Abschied, Hoeneß in einer Woche, Rummenigge in gut anderthalb Jahren.
Folglich wird der nächste Fußballlehrer wieder ein Moderator des Übergangs sein müssen. Jupp Heynckes hat das in der Nachfolge von Carlo Ancelotti vor fast genau zwei Jahren wunderbar gemeistert. Aber mit 74 Jahren steht er nicht mehr zur Verfügung. Er hatte schon 2017 betont, dass sein Einspringen ein reiner Freundschaftsdienst für Hoeneß gewesen sei.
Es ist kein Zufall, dass in dieser Lage Arsène Wenger (70) ins Gespräch kam. Diesmal sagten die Münchner ab: „Arsène Wenger hat Karl-Heinz Rummenigge angerufen und grundsätzlich Interesse am Trainerposten beim FC Bayern signalisiert. Der FC Bayern schätzt Arsène Wenger für seine Arbeit als Trainer beim FC Arsenal sehr, aber er ist keine Option als Trainer beim FC Bayern.“Dafür könnte es diese Erklärung geben:Wenger wollte mehr als ein Übergangstrainer sein, der den Münchnern wie zuvor Heynckes in einem Dreivierteljahr Ruhe und eine fußballerische Identität bis zur Amtsübernahme desWunschkandidaten (ten Hag?) gibt.
Vor allem an fußballerischer Identität nämlich mangelt es dem FC Bayern im November 2019. Das sehen auch die Spieler so. „Vielleicht hat uns nach vorn der Glanz gefehlt“, mutmaßte Thomas Müller nach dem 2:0-Arbeitssieg gegen Olympiakos Piräus. Zur Erklärung fügte er einen Satz mit drei Pünktchen hinzu: „Aber in unserer Situation...“
Andere führten den Satz fort, indem sie die defensive Stabilität gegen ein international zweitklassiges Team bejubelten. Es geht beim Meister offenkundig zunächst mal wieder um die Grundlagen. Dass Flick in seinem ersten Spiel als Chef die beiden Künstler Philippe Coutinho und Thiago Alcántara auf die Bank setzte, beweist das mehr als jeder Wortbeitrag. Und Kampfansagen an die Dortmunder gibt es nicht. Natürlich nicht.