Faschismus fand vor der Haustür statt
Der Leiter der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf über die Herausforderung, in Zeiten von Social Media Gedenken zu organisieren.
Die Novemberpogrome 1938 gelten als Datum, das den Übergang von der Diskriminierung der deutschen Juden zu ihrer systematischen Verfolgung und Ermordung im Holocaust markiert. In der Nacht vom 9. auf den 10. November starben Hunderte Menschen, als das nationalsozialistische Regime Geschäfte, Synagogen und Wohnungen zerstören ließ. Wir fragten Bastian Fleermann, Leiter der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf, wie man die Erinnerung an dieses Ereignis wachhält.
Ich mache mir Sorgen, dass die Menschen bald nicht mehr wissen, was in der Pogromnacht passiert ist. Sehen Sie die Gefahr auch?
BASTIANFLEERMANN Ich sehe natürlich die Gefahr, dass die Abwesenheit der Zeitzeugen das Gedenken verändert. Und dass der Grundkonsens der Bundesrepublik, unverbrüchlich zu dieser Erinnerungskultur zu stehen, zwar nicht bröckelt, dass er aber torpediert wird.
Glauben Sie, dass der Aufstieg der AfD auch damit zusammenhängt, dass das Gedenken an diese Zeit nicht mehr ausreichend gepflegt wird?
FLEERMANN Das glaube ich so nicht. Ich glaube auch nicht, dass das Gedenken abhandenkommt. Ich sehe im Gegenteil, dass die Gedenkstätten Besucherzahlen-Rekorde einfahren. Die Frage ist nur, wen wir erreichen und wie lange das wirkt, was bei uns didaktisch vermittelt wird. Interessant ist, wer nicht kommt.
Wer denn?
FLEERMANN Menschen, die sich nicht freiwillig mit der NS-Zeit auseinandersetzen wollen. Die laufen besonders Gefahr, mit solchen Begriffen sorg- und arglos umzugehen, die stärker belastet sind und den Nationalsozialismus verharmlosen. Und die das, was die Rechtspopulisten machen, nicht schlimm finden: nämlich die Grenzen des Sagbaren zu verschieben.
Und das sind offensichtlich viele. Noch einmal: Machen Sie sich keine Sorgen, dass das Wissen über das, was im KZ passiert, eklatant geschrumpft ist?
FLEERMANN Es ist ja nicht nur das KZ. Das ist immer weit draußen. Wenn wir den Nationalsozialismus als etwas Totalitäres verstehen, dann hat das auch im eigenen Mietshaus stattgefunden, auf der eigenen Straße, im eigenen Stadtviertel. Ich will weg von der Fixierung auf das KZ: Das Problem hinauszudrücken ist nicht die Lösung. Wir müssen das anschaulich vor Ort machen, zeigen, wie die Menschenwürde angegriffen wurde. Ich bin da nicht so pessimistisch. Wir müssen mit dem Finger auf uns selbst zeigen: Schulen, Universitäten, Gedenkstätten.
Jeder Einzelne muss sich dieser Aufgabe stellen.
Mit Ihrem Archivmaterial im Rücken: Da sind Sie nicht pessimistisch, wenn Sie auf den Ausgang der letzten Wahlen blicken?
FLEERMANN Ich bin pessimistisch, was den Aufstieg des Rechtspopulismus angeht. Das macht mir Sorgen, doch. Aber ich sehe auch eine große Mehrheit einer bürgerschaftlich getragenen Zivilgesellschaft, die ein gewaltiges Mehrheitswort mitzusprechen hat. Die Wahlen, die eine Partei bestätigen, deren Vertreter eine erinnerungskulturelle Wende und das Ende eines angeblichen Schuldkults fordern, machen mir Sorgen. Ich ahne, dass diese Leute nicht gewählt werden, obwohl die so etwas sagen, sondern weil sie so etwas sagen.
Wie kann das sein in einem Land mit dieser Geschichte?
FLEERMANN Das wundert mich auch.
Woran mag das liegen?
FLEERMANN Viele haben die Mechanismen, die zu Faschismus führen, nicht begriffen. Der Fraktionsvorsitzende Alexander Gauland hat den Holocaust als Vogelschiss bezeichnet: Menschen, die das unterstützen, tragen das mit, das müssen sie wissen. Das ist ein grober Verstoß gegen den bundesrepublikanischen Grundkonsens, der immer geherrscht hat, egal, welche Mehrheiten es in der Regierung gab: Die Erinnerung an den Nationalsozialismus wurde nicht angerührt. Aber das wird im Moment getan.
Wie erreichen Sie die Generation, die im Internet aufgewachsen ist?
FLEERMANN Das ist eine Sache der Form. Ich glaube, dass wir junge Menschen erreichen, wenn wir ihnen Geschichten von jungen Menschen damals erzählen und es Schnittmengen gibt zwischen ihren Lebenserfahrungen. Wenn man ihnen in der Form entgegenkommt, indem man Gedenken stark digital ausbreitet, kann man sie umso besser erreichen. Wissen über die NSZeit kann dank der Digitalisierung schnell abgerufen werden.
Viele vertrauen vor allem auf das, was sie in ihren Timelines finden. Wie wollen Sie da reinkommen?
FLEERMANN Wie sind auf Instagram und Facebook präsent. Wir gehen mit unseren Inhalten dort allerdings vorsichtig um, wir hauen Infos nicht im Stundentakt raus. Wir erreichen dennoch mehrere tausend Menschen und stoßen Diskussionen an.
Meinen Sie, das genügt?
FLEERMANN Natürlich ersetzt die Oberflächlichkeit solcher Medien nicht eine tatsächliche Auseinandersetzung mit der Materie. Die erreiche ich am besten vor Ort in den Gedenkstätten, über Sinnlichkeit und Wahrnehmung.
Sind Sie da nicht zu stark auf die Schulen angewiesen?
FLEERMANN Das funktioniert auch schon in den sozialen Netzwerken. Wir nehmen außerdem an Konzerten teil und sind mit den Jugendorganisationen im Gespräch.
Aber diese Leute stehen bereits auf der guten Seite. Wie erreichen Sie die anderen? Müssten Sie nicht mit Youtubern zusammenarbeiten, mit Rezo gedenken, so etwas?
FLEERMANN Das könnte ein Weg sein. Bei dieser Frage vor dem Hintergrund des Zeitzeugenabschieds sind wir noch in der Diskussion. Aber es gibt auf diese Frage nicht die stringente perfekte Lösung.
Wie kann der Einzelne helfen, Gedenken zu überliefern?
FLEERMANN In den Familien fehlt allzu oft das Gespräch. Wir haben in Deutschland eine gegenläufige Entwicklung: Wir sind sehr weit mit der wissenschaftlichen Forschungsarbeit, was den Nationalsozialismus angeht. Aber in den Familien sind wir noch bei null. In den deutschen Mehrheitsfamilien haben wir noch nicht gefragt, welche Rolle der Großvater gespielt hat. Das zu hinterfragen und sich damit konkret auseinanderzusetzen, führt uns weiter, als sich mit dem Privatleben von Hitler oder Göring zu beschäftigen.