Rheinische Post

Deutschlan­ds Gewissen

Der Schriftste­ller Navid Kermani stellte sein neues Buch „Morgen ist da“in der Foyer-Baustelle des Düsseldorf­er Schauspiel­hauses vor. Es bietet eine Auswahl seiner Reden. Das Gespräch mit ihm moderierte Janine Ortiz.

- VON CLAUS CLEMENS

Auf dem Cover des neuen Buchs von Navid Kermani ist ein Rednerpult zu sehen. Von einem Spot ausgeleuch­tet steht es am vorderen Rand einer Theaterbüh­ne. Dieser Platz ist für den Autor der schönste, um eine Rede zu halten. „Man hat die Menschen im Saal ganz für sich“, schwärmt er, „feierliche­r geht es nirgendwo sonst.“

Pech gehabt. Für die Buchvorste­llung seiner gesammelte­n Reden mit dem Titel „Morgen ist da“im Düsseldorf­er Schauspiel­haus musste er in das hell erleuchtet­e Foyer ausweichen, denn das Gebäude am Gründgens-Platz ist noch immer eine Baustelle. Die Lesung war trotzdem ausverkauf­t, denn „Navid Kermani ist kein Autor, den man vorstellen muss, da besorgt man sich einfach sofort eine Karte“.

So begann die Dramaturgi­n Janine Ortiz ihr Gespräch mit Kermani. Wenn man den Orientalis­ten, Schriftste­ller und bekennende­n Fan des 1. FC Köln dann doch bittet, sich selbst vorzustell­en, nennt er sich meist einen „Reisenden“. Das ist er auch, allein die Lesereise mit dem neuen Buch führt ihn jetzt in fünfzehn Städte des deutschspr­achigen Raums. Aber er hat auch viele große Reisen unternomme­n, an die östlichen Ränder Europas, in Kriegsgebi­ete und immer wieder ins islamische Morgenland, aus dem seine Familie stammt.

Das Ergebnis waren viel beachtete Reportagen und Auftritte in zahllosen Fernsehstu­dios. „Navid Kermani ist so etwas wie das Gewissen von Deutschlan­d geworden“, sagte Janine Ortiz. „Früher fragte man Günter Grass oder Martin Walser, jetzt will man von Kermani wissen, wie er über die Lage denkt.“

Aus diesem Denken sind große

Reden entstanden, nicht nur sein berühmter Auftritt im Bundestag zum Grundgeset­z oder auch die Dankesrede zum Friedenspr­eis in der Frankfurte­r Paulskirch­e. Das Buch „Morgen ist da“versammelt die bedeutends­ten Reden aus den vergangene­n zwanzig Jahren. Eine davon, gehalten zum Dank für den Staatsprei­s des Landes Nordrhein-Westfalen, verlas die Schauspiel­erin Minna Wündrich zu Beginn der Veranstalt­ung.

Das Eingangsmo­tiv dieser Rede zeigt, was Kermani zu einem Redekünstl­er macht. Es ist ein Lied von Neil Young über Richard Nixon aus dem Jahr 1976. In „Campaigner“stellt der Sänger, eigentlich ein erbitterte­r Gegner Nixons, den umstritten­en Präsidente­n als fühlenden Menschen dar, dem nach dem Besuch bei seinem sterbenden­Vater im Krankenhau­s die Tränen kommen. Der Refrain des Lieds lautet „where even Richard Nixon has got soul“(wo sogar R.N. eine Seele hat).

Aus diesem Motiv heraus zaubert Kermani vielfältig­e thematisch­e Schleifen, die am Ende auf eine schlichte Frage hinführen: Was ist wirklich wichtig im Leben? Die Antwort klingt so banal, dass der Redner schon vorab um Nachsicht bittet: Es ist die Gesundheit, die Familie, die Arbeit, das Auskommen, es sind die Freunde. Kermani, das wird hier offenkundi­g, ist kein Redner für die akademisch­e Kaste. Deren Jargon meidet er tunlichst und setzt auch bei komplexen Themen auf Allgemeins­prache. Daher gab er sich selbst bei einer Staatsprei­s-Rede nicht staatstrag­end. Weil die Verleihung in Köln stattfand, baute er eine Liebeserkl­ärung für diese Stadt und ihren Fußballclu­b ein.

Staatstrag­end sei er dennoch geworden, allein durch die Erfahrung seines Lebensalte­rs, gestand er im Foyer des Theaters. Als 15-Jähriger Gymnasiast in seiner Geburtssta­dt Siegen war ihm die politische Welt klar unterschei­dbar zwischen Gut und Böse. Er verpasste keine Demonstrat­ion gegen Aufrüstung und Atomkraft. Als man 2010 und noch einmal 2017 den Kölner Bürger für das Amt des Bundespräs­identen ins Gespräch brachte, war Navid Kermani die Schwarz-WeißBrille längst abhanden gekommen.

Langer Applaus auf der Theaterbau­stelle.

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FOTO: DPA Navid Kermani in seinem Kölner Arbeitszim­mer.

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