„Ich schenke denen nicht meine Angst“
Die Bundestagsvizepräsidentin über die Morddrohungen gegen sie, das Auftreten der AfD im Parlament und den Höhenflug der Grünen.
Sie werden oft beschimpft und bedroht. Haben Sie manchmal Angst? ROTH Natürlich geht es nicht spurlos an dir vorbei, wenn du beschimpft wirst, wenn sexualisierte Gewaltfantasien auf dich niederprasseln, wenn du Morddrohungen erhältst. Das ist auch gut so, ich will nicht abstumpfen. Aber ich schenke denen, die mich zum Schweigen bringen wollen, nicht meine Angst, sondern solidarisiere mich mit den vielen anderen, die bedroht werden: Kommunalpolitikerinnen und Journalisten, Jüdinnen und Muslimen, Künstlerinnen und Menschen mit Migrationsgeschichte. Wir erleben einen gezielten Angriff auf unsere lebendige Demokratie und Zivilgesellschaft. Wenn sich deshalb Menschen zurückziehen, haben wir ein massives Problem. Ich will aber nicht in einem Land leben, in dem andere Angst haben. Deshalb: Gesicht zeigen, Stimme erheben.
Ist die Demokratie nicht wehrhaft genug?
ROTH Zumindest ist auf Ebene der Bundes- und einiger Landesregierungen viel zu lange relativiert worden, was strukturellen Rassismus und Rechtsextremismus betrifft. Dieser Dornröschenschlaf muss aufhören. Alle Demokratinnen und Demokraten sollten sich bewusst werden, dass das Selbstverständliche nicht mehr selbstverständlich ist. Es ist nun unser aller Aufgabe, den demokratischen Grundkonsens aktiv zu verteidigen.
Man hat den Eindruck, dass Gesetzgeber, Sicherheitsdienste und Gerichte den Hasstiraden nur hinterherlaufen.
ROTH In der Tat besteht Handlungsbedarf an allen Ecken und Enden. Das zeigt allein das Urteil im Fall von Renate Künast.
Ein Gericht zählt es zur Meinungsfreiheit, dass Frau Künast als „Stück Scheiße“bezeichnet wurde. ROTH Und alle, mit denen ich spreche, verstehen die Welt nicht mehr. Neulich habe ich mich mit einem Lehrer unterhalten. Der sagte mir, er wisse angesichts solcher Urteile gar nicht mehr, wie er seinen Schülerinnen und Schülern vermitteln soll, was Anstand eigentlich bedeutet. Gut, dass Renate Künast nun Beschwerde eingelegt hat. Ich kann mir gut vorstellen, dass die nächste Instanz anders entscheidet.
Welche Konsequenzen des Staates fordern Sie?
ROTH Wir brauchen ein strengeres Waffenrecht und eine „Task Force Rechtsextremismus“. Menschen, die bedroht werden, brauchen einen Ansprechpartner. Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz muss reformiert und auf Plattformen ausgeweitet werden, wie sie der Attentäter von Halle genutzt hat. Die Sicherheitsbehörden müssen sich besser aufstellen, stärker die internationale Vernetzung rechtsextremer Strukturen in den Blick nehmen – und natürlich müssen wir, fernab jedes Generalverdachts, rechtsextreme Verbindungen innerhalb der Sicherheitsbehörden trockenlegen. Zivilgesellschaftliche Organisationen, die Aufklärungs- und Präventionsarbeit leisten, brauchen mehr Unterstützung und Planbarkeit. Daher unsere Forderung nach einem Demokratieförderungsgesetz. Und die Justiz benötigt Sonderstaatsanwaltschaften, die ausreichend Personal haben und verstehen, was da passiert.
Was passiert da denn?
ROTH Gezielte Stimmungsmache. Es werden Lügen verbreitet, Hass und Hetze geschürt. Die Stichwortgeber mögen selbst nicht zur Tat schreiten. Aber sie bereiten den Boden dafür, dass sich Einzelpersonen aus ihrer Szene dazu berufen fühlen könnten – ähnlich wie im Dschihadismus. So war es beim Anschlag auf die Oberbürgermeisterin von Köln, Henriette Reker. So war es im Mordfall Lübcke. Und so war in Halle.
Können Sie eine Halbzeitbilanz ziehen zum Auftreten der AfD im Bundestag? ROTH Die AfD missbraucht den Bundestag als Bühne für ihre systematische Provokation. Sie will, dass wir uns gewöhnen: an ihre entgrenzte Sprache, an die ständigen Angriffe auf Minderheiten, an ihre Ideologie der Ungleichwertigkeit. Dabei gewinnt der sogenannte Flügel zunehmend an Einfluss, die Radikalisierung schreitet voran. Immerhin: Im Gegenzug rückt das Kollegiale und Verbindende zwischen den anderen Fraktionen häufiger in den Vordergrund – bei allem inhaltlichen Streit, der ein lebendiges Parlament ausmacht. Das ist wichtig. Die Herzkammer unserer Demokratie verteidigt keine Fraktion allein. Da braucht es eine kluge, gemeinsame, vor allem aber unmissverständliche Reaktion aller Demokratinnen und Demokraten im Haus.
Die Grünen sind so diszipliniert und erfolgreich wie nie zuvor in ihrer Geschichte. Wird sich das auch auf dem Parteitag zeigen?
ROTH Ich würde sagen: Wir sind uns treu in Veränderung. Wenn unsere Bundesgeschäftsstelle vor dem anstehenden Parteitag unter fast eintausend Änderungsanträgen beinahe zusammenbricht, dann sind wir offenkundig so debattierfreudig und streitlustig wie eh und je. Diese Partei brennt, will gestalten – und ringt um den richtigen Weg zum gemeinsamen Ziel. Ich glaube, eine starke grüne Partei ist wichtiger denn je. Klimapolitik ist zu einer Überlebensfrage geworden. Die aktuelle Bundesregierung scheint weder in der Lage noch willens, sie zu beantworten.
Und die Veränderung?
ROTH Natürlich haben wir uns weiterentwickelt. Mit Gewerkschaften und Wirtschaftsvertretern haben wir neue Bündnispartner gewonnen. Und in zahlreichen Bundesländern sind wir Teil der Regierung. Auf unserem Parteitag wollen wir erneut deutlich machen, was es heißt, das Ökologische mit dem Sozialen und dem Ökonomischen zu verbinden. Weil uns die klimatische Radi
kalität des Realen bewusst ist, sind unsere Antworten radikal anders als die der anderen Parteien. Zugleich braucht es Ansätze, die auch realitätstüchtig sind. Wir müssen also ein realistisches Erwartungsmanagement in alle Richtungen betreiben. Wir müssen das Notwendige fordern und zeigen, dass es geht, ohne zugleich den Eindruck zu erwecken, alle Probleme in wenigen Wochen lösen zu können. Denn natürlich stehst du schnell als Verräter da, wenn du Dinge versprichst, die du dann nicht halten kannst.
Rechnen Sie am kommenden Wochenende mit guten Ergebnissen für Annalena Baerbock und Robert Habeck bei der Vorsitzenden-Wahl? ROTH Ja. Die beiden haben einen guten Job gemacht. Sie binden ein und vermitteln, sind fleißig, haben eine unheimlich positive Ausstrahlung. Und das sage ich als eine, die sich zum linken Parteiflügel zählt. Natürlich gibt es mal unterschiedliche Sichtweisen und Einschätzungen. Darüber diskutieren wir. Aber die beiden Vorsitzenden verstehen sich eben nicht als Repräsentanten ihres Flügels. Sie haben die Partei zusammengeführt und mit großer Kraft gezeigt, dass eine Doppelspitze integrativ wirken kann – und einen Mehrwert bringt.