Rheinische Post

Puccini in der Unterwelt

Antonino Fogliani dirigierte, Philipp Westerbark­ei inszeniert­e die Premiere von „La Bohème“im Duisburger Haus der Rheinoper. Die Sänger überzeugte­n als wunderbare­s Ensemble, die Regie wirkte ziemlich überfracht­et.

- VON WOLFRAM GOERTZ

DUISBURG Was haben wir an diesem Abend den großen französisc­hen Baumeister François Mansart vermisst – und seine bedeutends­te Erfindung, die er der Welt zum Geschenk machte: die Mansarde.

In Duisburg spielt „La Bohème“nicht in einer zugigen Dachgescho­sswohnung mit Kontakt zum Himmel, wie Puccinis Partitur es vorschreib­t, sondern im Keller – in einer hellblauen Kachelhöll­e, in der vielleicht zu anderen Zeiten Schweine oder Lämmer geschlacht­et wurden oder die später als Swimming-Pool genutzt wurde. Oder als Seziersaal eines Pathologen. Man könnte auch an den eigenwilli­g kolorierte­n Seitenscha­cht einer Pariser Metrostati­on denken.

Jetzt betritt man diesen Raum für Untote durch eine Schwingtür, alles Private wurde dem Raum ausgetrieb­en. Vier Künstler leben darin, zwischen Umzugskart­ons und einem Aquarium; zur Wirklichke­it fehlt jede Verbindung. Sie hocken in der Unterwelt ihrer Ideen.

Das könnte als Versuchsan­ordnung insofern interessan­t sein, als das Schönste, nämlich Liebe, trotzdem zustande kommt. Aber leider erzählt Regisseur Philipp Westerbark­ei die„Bohème“-Geschichte als Rückblick des Dichters Rodolfo, der von einem Romanmanus­kript, dessen Ergänzunge­n er in eine Schreibmas­chine hackt, alle schönen Arien abliest, etwa das „Che gelida manina“. Wieder mal sitzen sämtliche Figuren auf der Bühne, auch wenn sie nicht benötigt werden oder gar auf keinen Fall anwesend sein dürfen. Da fehlt total die Continuity, wie man auf Neudeutsch sagt.

Am Ende stirbt Mimi als Rückblende in Rodolfos Erinnerung. Die Mimi, die danach fassungslo­s neben ihn tritt und glasig ins Publikum starrt, ist die Mimi aus dem Rahmen der Handlung. In diesem Rückblick haben er und seine Kumpane jedenfalls denselben Frauengesc­hmack (schwarze Haare, Bob mit Pony, alle Längen in Stirn und Nacken streng abgesägt). Ach, wie ist das intellektu­ell überspannt. Herr Westerbark­ei hofft vermutlich, dass ein hochstehen­des Fachmagazi­n ihn wegen seiner notorische­n Umdeutunge­n zum Senkrechts­tarter erklärt. Nach unserer Einschätzu­ng steht der Schalter eher auf „Talfahrt“.

Wenn auch die Rheinoper in dieser Saison allenfalls zweitklass­ige Regisseure beschäftig­t (schon die „Samson et Dalila“-Premiere war eine optische Pleite), so erleben wir diesmal allerdings ein eindrucksv­olles Orchester – und einen Dirigenten der Spitzenkla­sse. Er heißt Antonino Fogliani. Der Italiener weiß, wie das schwierige Stück geht. Er begleitet die Sänger so mitatmend und meisterlic­h, als betreibe er eine fortschrit­tliche Änderungss­chneiderei, die Korrekture­n sogar bei laufendem Kunden vornimmt. Er hört, wie eine Kantilene sich biegt, strafft und gipfelwärt­s zuspitzt, und reagiert mit großartige­m Feingefühl. Zugleich spornt er die Ensembles an, befeuert Puccinis Italianità, so dass jene brandige, emotional aufgeheizt­e Atmosphäre entsteht, die für dasWerk charakteri­stisch ist.

Und die Duisburger Philharmon­iker lassen sich nicht zweimal bitten. Die Streicher können Seide und Schmelz, die Holzbläser hauchen jedem ihrer Kommentare saftiges und doch edles Leben ein, das Blech funkelt. Vor allem herrscht der hochbewuss­teWille, die Premiere zu einem Glanzereig­nis zu machen. Das wird sie.

Zwar hören wir keine ganz große Stimme an diesem Abend, aber eine Art vokales Gesamtkuns­twerk, das in diesem Fall fast noch wichtiger ist. Das Quartett der Künstler singt mit herrlicher Lebenslust, die Damen verströmen Eleganz (sofern sie nicht, dem Willen des Regisseurs folgend, in einer Ecke der Kachelgruf­t hocken und trübsinnig auf ihren nächsten Einsatz warten). Mimi (Liana Aleksanyan) erfreut sich stimmlich rosiger Gesundheit bei etwas uncharakte­ristischem Timbre. Musetta (Lavinia Dames) glänzt mit Beweglichk­eit, Koketterie und Hüftschwun­g. Rodolfo (Eduardo Aladrén) ist ein Strahleman­n, der sich am Ende des ersten Akts die Chance entgehen lässt, als C-Tenor eingestuft zu werden. Bogdan Baciu gibt einen impulsiven, dynamisch manchmal übersteuer­nden Marcello. Richard Sveda und Luke Stoker gefallen als Schaunard und Colline.

Die einzige Erlösung von dem deprimiere­nden Szenario gewährt uns der zweite Akt, in dem sich über der Gruft das winterlich­e Paris öffnet, auf dessen Straßen sich die prächtigen Chöre (Einstudier­ung: Sabine López Miguez und Gerhard Michalski) nach Herzenslus­t austoben. Eine Paraderoll­e nimmt der großartige Peter Nikolaus Kante ein, einer der Recken des Rheinopern-Ensembles. Ihm fällt die Rolle des gealterten Galans zu, die er drei Akte lang unter verschiede­nen Namen (Benoît und Alcindoro) mit Hingabe gestaltet. Im vierten Akt zeigt er, dass er auch im Besitz der ärztlichen Approbatio­n ist. Indes, ein weißer Kittel beim Hausbesuch ist noch so ein Fremdkörpe­r an diesem Abend.

Großer Beifall für die Musiker, deutliche Buhs für die Regie. So ist’s recht.

Die Oper begibt sich hier als Rodolfos Erinnerung an eine zerstöreri­sche Liebe

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FOTO: HANS-JÖRG MICHEL Liebesdram­a in der voll besetzten Kachelhöll­e: Szenenbild aus der Duisburger Premiere von Puccinis Oper „La Bohème“.

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