Die Geschichte der Bienen
Roman Folge 76
Die Bienen hatten nun mal die drollige Angewohnheit, wenn sie sich Pausen gönnten, nicht nur in der freien Natur Bäume anzusteuern, sondern auch in den Gärten der Leute, während die Spurbienen nach einem neuen Zuhause Ausschau hielten.
Aus diesem Grund steckte ich nun meinen Kopf in die Magazinbeuten und suchte nach Schwarmzellen. Sobald ich welche entdeckte, brach ich sie. Fand ich hingegen schon Larven, blieb mir kein anderer Ausweg, als das Volk zu teilen.
In manchen Stöcken war der Schwarmdrang besonders groß, warum, fand ich nie heraus. Dann galt es, die Königin auszuwechseln und nur die Besten unter ihnen zur Zucht einzusetzen. Man musste der Verlockung widerstehen, mit den Nachfahren der schwärmerischen Bienen weiterzumachen.
In diesem Jahr hatte ich die meisten Königinnen schon ausgetauscht, einzelne durften jedoch weiterleben. Es waren einige wenige, treue Königinnen, die bis zu drei Jahre lang weiter Eier legten. Musterköniginnen. Mit ihnen züchtete ich gern.
Bei einer von ihnen stand ich gerade, an einer rosafarbenen Magazinbeute, in der ein sehr gewissenhaftes Bienenvolk lebte. Eines, das den meisten Nektar sammelte. Bienen, auf die ich mich verlassen konnte und die wie die Wilden produzierten, ich hatte in diesem Jahr schon zwei Honigräume aufgesetzt. Zwei schwere Kisten voller Honig. Ich war seit einer Woche nicht mehr hier gewesen, weil ich mich in der Zwischenzeit um die Beuten an anderen Orten gekümmert hatte.
Der Gedanke an Tom schwirrte mir im Kopf herum, sodass ich mir das Flugbrett nicht genau ansah, ehe ich den Deckel abnahm. Wir hatten nichts mehr von ihm gehört. Nichts über das Stipendium oder was er sonst plante. Vielleicht hatte er mit Emma telefoniert, während ich unterwegs war, und sie hatte es nicht erwähnt. Ich wartete einfach ab. Vielleicht überdachte er auch die verschiedenen Möglichkeiten, und keine Nachrichten waren gewissermaßen gute Nachrichten. Und er wusste schließlich, wo er mich erreichen konnte, es war ja nicht so, dass der Hof Flügel bekommen hatte und davongeflogen war. Hatte ich ihn verloren?
Ich legte den Deckel auf dem Boden ab, und erst jetzt setzte meine Konzentration wieder ein. Denn das Geräusch war nicht so wie üblich. Nicht so, wie es sein sollte. Es war viel zu still.
Ich entfernte die Isolierung. Jetzt müsste ich sie doch bald hören?
Ich warf einen Blick auf das Flugbrett, die Löcher.
Keine Bienen.
Dann sah ich in die oberste Zarge hinein. DieVorräte waren in Ordnung. Viel Honig.
Aber wo waren sie? Vielleicht in der nächsten Zarge. Ja. Da mussten sie sein.
Ich nahm sie ab. Mein Rücken streikte. Denk dran, in die Knie zu gehen. Ich versuchte, gelassen zu bleiben. Setzte sie ordentlich im Gras ab, richtete mich auf und sah in die nächste Zarge hinein. Nichts.
Der Brutraum. Sie mussten im Brutraum sein.
Hastig entfernte ich das Königinnengitter. Die Sonne stand direkt über meinem Kopf und schien in den Innenraum.
Leer. Er war leer.
An Brut fehlte es nicht, aber das war auch schon alles. Nur einige wenige, frischgeschlüpfte Bienen krabbelten herum, ohne dass sich jemand um sie kümmerte. Verwaiste Kinder.
Ganz unten fand ich die Königin, wie alle Königinnen war sie mit türkisfarbenem Lack auf dem Rücken markiert. Um sie herum hatten sich mehrere junge Bienen versammelt, ihre Kinder. Sie tanzten nicht, waren wie benommen. Allein. Verlassen. Mutter und Kinder, verlassen von der Masse der Arbeiterinnen. Verlassen von denen, die auf sie aufpassen sollten. Verlassen, um zu sterben.
Ich suchte den Boden der Beute ab, doch auch dort war nichts. Sie waren einfach weg.
Vorsichtig setzte ich das Königinnengitter und die Zargen wieder auf ihren Platz. Ich merkte, dass ich hektisch blinzelte. Meine Hände zitterten und waren plötzlich kalt wie an einem nassen Herbsttag.
Ich wandte mich der benachbarten Beute zu. Das Flugbrett, der Eingang zum Bienenstock, lag auf der anderen Seite, sodass ich sie nicht sehen konnte, aber das brauchte ich auch nicht, um zu wissen, was mich erwartete, denn es war viel zu still.
Keine Spur von Milben. Keine anderen Krankheiten. Keine Massaker, kein Friedhof, keine Leichen.
Der Bienenstock war einfach nur verlassen worden.
Und auch dort fand ich die Königin fast allein, ganz unten.
Meine Brust krampfte sich zusammen, ich beeilte mich, den Deckel wieder aufzulegen.
Ich öffnete die nächste Magazinbeute.
Die Hoffnung saß in meinen Händen, als ich mit einem Ruck den Deckel abnahm.
Doch nein. Dasselbe. Ich öffnete die nächste. Dasselbe. Die nächste.
Die nächste.
Die nächste.
Dann hob ich den Blick. Betrachtete sie alle miteinander, wie sie in unregelmäßigen Abständen in der Landschaft standen. Meine Magazinbeuten. Meine Bienen.
26 Beuten. 26 Bienenvölker.
William
Während Edmund seinen Genesungsschlaf machte, arbeitete ich bei meinem Bienenstock. Die Sonne schien wieder, hier draußen war ich unbeschwerter. Natürlich war er nicht krank, er war einfach nur erschöpft, Thilda hatte sicher recht. Ein Tag mehr oder weniger spielte keine Rolle, und wenn Edmund sah, was ich vollbracht hatte, würde er bestimmt richtig erwachen.
Die Observationsbedingungen waren hervorragend. Ich hatte den Stock so hoch platziert, dass ich kaum den Rücken beugen musste, um etwas zu sehen. Die Bienen hatten sich überraschend schnell zurechtgefunden, und jetzt schafften sie unermüdlich Pollen und Nektar herbei und vermehrten sich. Alles war so, wie es sein sollte. Nur eines verwunderte mich: ihr ständiges Bedürfnis, die Rahmen mit dem Bienenwachs an etwas zu befestigen. Ich hatte verschiedene Strategien erprobt, doch wenn die Rahmen zu nahe an den Seiten des Bienenstocks standen, produzierten die Tiere eine Mischung ausWachs und Propolis – jenes zähe Material, das sie aus Harz herstellten –, und wenn sie zu weit entfernt standen, bauten die Bienen wild drauflos, und dieWaben hingen kreuz und quer.
(Fortsetzung folgt)