Sehnsucht nach den Goldenen Zwanzigern
Zwischen Erstem Weltkrieg und Nazi-Diktatur lag ein Jahrzehnt, das wegen seiner kulturellen Vielfalt als „golden“gerühmt wurde. Ausstellungen, Partys und Filme wecken das Lebensgefühl von damals im Jahr 2020 neu.
Was vor 100 Jahre in Berlin begann, gilt gesellschaftlich und kulturell betrachtet als „goldenes Jahrzehnt“– progressiv, aufgeschlossen, frei. Zum Jubiläum erlebt die Zeit eine Renaissance: In der Hauptstadt gibt es spezielle Stadtführungen, auf Partys in der ganzen Republik wird im damaligen Stil gefeiert.
Als „Zauberstadt“besang die in Gelsenkirchen geborene Chanson-Sängerin Claire Waldoff das Berlin der 20er Jahre. Schon damals war die deutsche Hauptstadt eine Metropole – vor 100 Jahren wurden Gemeinden wie Charlottenburg, Schöneberg und Neukölln mit Berlin zusammengeschlossen. Groß-Berlin entstand, mit einer Einwohnerzahl von 3,9 Millionen nach New York und Los Angeles die drittgrößte Stadt der Welt.
Befreit von den Schrecken des Ersten Weltkriegs entwickelte sich Berlin zum politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zentrum derWeimarer Republik, zog Künstler, Wissenschaftler, Intellektuelle an. Die Goldenen Zwanziger sind zum Mythos geworden, stehen für ungezügelte Nachtkultur, Avantgarde und Weltstadtflair.
Golden waren sie dabei längst nicht für alle und eigentlich auch erst nach 1924 – vorher bestimmten wirtschaftliche und politische Krisen das Leben. Und schon 1929 war die Party schon wieder vorbei. Der Börsencrash in den USA stürzte die Welt in eine Wirtschaftskrise, der Aufschwung in Deutschland kollabierte. Braun sollte die vorherrschende Farbe des Jahrzehnts werden, das auf die Goldenen Zwanziger folgte. Der berühmte Tanz auf dem Vulkan, sinnbildlich für die Euphorie am Rande des Abgrunds, dauerte nur eine halbe Dekade – und doch ruft er bis heute Sehnsüchte hervor. Die Vergangenheit erwacht demnächst zu neuem Leben, unter anderem mit einer neuen Staffel der Erfolgsserie „Babylon Berlin“und einer Revue-Show.
Die 20er auf der Bühne Marlene Dietrich, die Comedian Harmonists und Josephine Baker – alle waren sie Stars des Berliner Nachtlebens der späten 20er und frühen 30er Jahre. In der Revue „Berlin Berlin“teilen sie sich eine Bühne. Von einer Live-Band begleitet, werden Klassiker wie „Ich bin von bis Fuß auf Liebe eingestellt“, „Die Moritat von Mackie Messer“und „Ain't Misbehavin'“in neuen Arrangements dargeboten, dazu kommen teils laszive Tanzeinlagen. Swing, Lindyhop und Charleston waren die Tänze dieser Zeit, in den großen Revuetheatern trugen die Damen dazu häufig vor allem Federn und Pailletten.
Eine Handlung gibt es dabei Revue-typisch nicht, vielmehr führt der Admiral (Martin Bermoser) singend, tanzend und kalauernd durch den Liederabend. Das ist unterhaltsam, zwischendurch auch mal albern, aber immer wieder auch durchaus ernst – etwa wenn es um die rassistische Konnotation des berühmten Bananenrocks von Josephine Baker geht oder um die Nachtklublegende Anita Berber, die der Maler Otto Dix ganz in Rot verewigte und die mit nur 29 Jahren an den Folgen übermäßigen Alkohol- und Drogenkonsums starb. Die Musicaldarstellerin Sophia Euskirchen spielt sie mit großer Hingabe, ihre Version von „Cabaret“ist eines der Highlights der Show. Und auch das grausame Ende dieser exaltierten Jahre blenden die Macher der Show nicht aus – entlassen die Zuschauer aber dennoch versöhnlich in die aktuellen 20er.
„Eine Welt, in der alles möglich war, und in der es keine Grenzen gab“– so beschreibt Autor und Regisseur Christoph Biermeier das Berlin, das auf der Bühne gezeigt werden soll. „Das Thema 20er liegt in der Luft“, sagt Produzent Martin Flohr, „überall lodert die Begeisterung für die Mode, die Tänze, die Musik und die Stars.“Ende Dezember feierte die Show Premiere im Berliner Admiralspalast – Originalschauplatz berühmter Revuen der 20er –, im Januar und Februar ist sie in Düsseldorf und Köln zu sehen.
Babylon Berlin
Bezugnehmend auf die Bibel geht es in der Erfolgsserie (ARD/Sky) von Tom Tykwer, Achim von Borries und Henk Handloegten vor allem um die (menschlichen) Abgründe der Metropole. Die Hauptfiguren Gereon Rath (Volker Bruch) und Charlotte Ritter (Liv Lisa Fries) arbeiten bei der Polizei und ermitteln in der Berliner Unterwelt bei den sogenannten Ringvereinen, es geht um Mord, um politische Ränkespiele und immer auch um die Stadt selbst. Kenner der Serie (und auch der Romanvorlagen von Volker Kutscher) werden mit anderen Augen durch die Hauptstadt gehen, auf der Suche nach dem legendären Nachtklub „Moka Efti“, in dem auch Rath und Ritter manche Nacht vertanzen, oder der Gaststätte „Aschinger“.
Viel wird in den Kulissen von Babelsberg gedreht, einige Originalschauplätze wie das Stummfilmkino Delphi in Weißensee (in der Serie das „Moka Efti“), der Ratskeller des Rathauses Schöneberg (die Gaststätte„Aschinger“) und das Rote Rathaus (das legendäre Polizeihauptquartier, die Burg) lassen sich aber besuchen. Und so sind die teuerste deutsche Serie aller Zeiten – jede Minute soll um die 15.000 Euro kosten – und ihr Erfolg (unter anderem mehrere deutsche und ein europäischer Filmpreis) ein Geschenk für die Hauptstadt. Ab 24. Januar ist die dritte Staffel bei Sky zu sehen, im Herbst wird sie dann auch in der ARD gezeigt – und wurde bereits vor dem Start in mehr als 35 Länder verkauft.
Berlin feiert sich selbst 100 Jahre Groß-Berlin, 100 Jahre Metropole – das feiert die Stadt unter anderem mit mehreren Ausstellungen, einem Architekturwettbewerb zum Berlin der Zukunft, und vielen Veranstaltungen (www.visitberlin.de/de/ veranstaltungskalender-berlin). So wirft die Ausstellung „Chaos und Aufbruch“im Märkischen Museum einen Blick zurück auf die historische Stadtwerdung, aber nicht nur das. Die wichtigen urbanen Themen von damals sind nämlich heute immer noch aktuell:Wohnen, Verkehr, Identität.
Wer dem Berlin der 20er nahe kommen will, hat dazu auf speziellen Stadtführungen die Möglichkeit. Verschiedene Agenturen bieten Spaziergänge oder Bustouren zu Orten dieser Epoche an – Alexander- und Nollendorfplatz etwa, Kurfürstendamm und Tauentzienstraße oder auch der damalige Bülowplatz, heute Rosa-Luxemburg-Platz, an dem Bauhaus-orientierte Wohnhäuser und das 1929 als Stummfilmkino eröffnete „Babylon“stehen. Jeden Samstag um Mitternacht werden hier immer noch Stummfilme gezeigt, begleitet von Deutschlands einziger erhaltener Kinoorgel. Viele dieser Schauplätze spielen auch in „Babylon Berlin“eine Rolle – wer dazu mehr erfahren will, sollte eine Führung bei der Agentur Zeitreisen des Historikers Arne Krasting buchen, die mit den Serienmachern zusammenarbeitet. Schließlich soll sogar das Nachtleben der Zwanziger wieder aufleben: Die Partyreihe „Bohème Sauvage“beispielsweise lädt in verschiedenen Städten, darunter natürlich Berlin, aber auch Köln und Hamburg, zum Tanz im Chic dieser Zeit, mit einem„Hauch von Fin de Siècle Melancholie“, wie die Veranstalter versprechen.Der Eintritt kostet 29 Euro, Tickets für die nächsten Partys gibt es im Internet – und für diejenigen, die keine Federboa zu Hause haben, auch Tipps, wo man entsprechende Kostüme ausleihen oder kaufen kann.