Ein Stadtteil rückt zusammen
Weil sie nicht nach Hause kamen, verbrachten viele Betroffene die Nacht in Kneipen. Andere konnten die Bombe vom Balkon sehen.
Eine Firma öffnete ihre Kantine für die evakuierten Altenheim-Bewohner. Viele Derendorfer verbrachten die Wartezeit in Kneipen.
1.11 Uhr zeigte die Uhr an, als Frank Stommel vom Kampfmittelbeseitigungsdienst am Samstagmorgen die Zehn-Zentner-Bombe auf der Baustelle der ehemaligen Ulmer Höh` entschärft hatte – mehr als 14 Stunden, nachdem die Fliegerbombe bei Bauarbeiten gefunden wurde. Immer wieder hatte die Polizei innerhalb des Gefahrenbereichs A (Radius bis 1000 Meter) Menschen auf der Straße angetroffen oder Licht in Wohnungen gesehen, so dass die Entschärfung nach hinten verschoben werden musste. Wie Polizeisprecher André Hartwig erklärt, habe es aber keineVorfälle gegeben, bei denen aktiverWiderstand geleistet wurde, „es mussten keine Anzeigen geschrieben werden, die Angetroffenen haben die Notwendigkeit einer Evakuierung letztlich eingesehen“. Fast 12.000 Menschen mussten ihre Häuser verlassen, nahezu 20.000 weitere im Gefahrenbereich B durften diese nicht verlassen.
Als Bezirksbürgermeisterin Marina Spillner von dem Bombenfund erfuhr, war sie schon auf dem Weg zu einem Termin im Ulmenclub. „Wir wollten mit den Jugendlichen dort einen Workshop durchführen, das ist dann natürlich ins Wasser gefallen“, sagt Spillner, die in Pempelfort wohnt und nicht direkt betroffen war. Die ganze Nacht über habe sie den Fortlauf der geplanten Entschärfung aber verfolgt, „man weiß ja nie, ob etwas passiert. Und im Ernstfall sollte ich schon wach sein“, erklärt sie. „Ein Hammer“sei es, dass Leute den Anweisungen der Ordnungsbehörden nicht Folge geleistet hätten. „Das ist schon extrem unsozial und ärgerlich.“Von der Bezirksverwaltungsstellenleiterin Silke Laqua, Mitglied des Krisenstabs, habe sie erfahren, dass die Stimmung in der Aula des Max-Planck-Gymnasiums, die als Notunterkunft hergerichtet wurde, gut war, die Betroffenen hätten Verständnis für die Situation gezeigt.
Viele Derendorfer verbrachten die Stunden in Kneipen, insbesondere rund um die Nordstraße. Dirk Steege vom Mutt`s an der Schwerinstraße zum Beispiel berichtet, dass er noch nie so viele Fremde in seinem Laden zu so später Stunde gesehen habe. „Die Kneipe war so etwas wie der Rückzugsort für die Evakuierten und Gestrandeten. Einige wurden aus ihrer Wohnung verwiesen, andere haben es gar nicht bis dahin geschafft“, erzählt er. Und so hätten noch weit nach Mitternacht Menschen, die sich vorher nicht kannten, bei ihm auf der Straße gestanden und miteinander über den Bombenfund diskutiert. „Das hatte schon Event-Charakter.“
Ähnliches hat Taxifahrer Jürgen Koll beobachtet. „Das war teilweise wie eine Party, die Gastronomen haben bestimmt ein gutes Geschäft gemacht“, sagt er. Er habe auch viele Leute an den Haltestellen stehen gesehen, die vergeblich auf eine Bahn warteten. „Die waren offenbar komplett ahnungslos“, wundert er sich. Er habe noch nie so viele Rettungs- und Einsatzfahrzeuge „auf einem Haufen“gesehen. „Die gesamte Theodor-Heuss-Brücke zum Beispiel war komplett in Blaulicht getaucht, das war schon eindrucksvoll“, beschreibt Koll seine Eindrücke. Allerdings kamen aus der Bevölkerung auch Klagen, die Stadt habe auf den Vario-Tafeln an der Autobahn zu spät auf die Sperrungen hingewiesen, so dass Autofahrer nicht mehr einem Stau ausweichen konnten.
Erstmalig in seiner mehr als 50-jährigen Geschichte war auch das Edmund-Hilvert-Haus von einer kompletten Evakuierung betroffen. „Einige Bewohner wurden von ihren Angehörigen abgeholt, um im Kreise der Familie die kommenden Stunden zu verbringen“, erzählt Stefan Heuser, der Leiter der Senioreneinrichtung an der Roßstraße. Bettlägerige Bewohner seien dank der unkomplizierten und sehr engagierten Hilfe des benachbarten Tersteegen-Hauses bis nach der Entschärfung dort untergebracht gewesen. Die meisten jedoch hätten die langen Stunden in der Kantine von L`Oréal verbringen dürfen. „Die Bewohner wurden mit frisch zubereitetem Essen versorgt, Mitarbeiter, Angehörige und Ehrenamtler kümmerten sich um die Betroffenen. Das war schon genial“, berichtet Heuser. „Es wurde gespielt, gesungen und um 0 Uhr sogar noch ein Geburtstag gefeiert.“
Rafael Lorberg wohnt direkt gegenüber der Ulmer Höh`: „Wir haben einen zweijährigen Sohn, das war für den natürlich ganz schön aufregend, die ganzen Einsatzfahrzeuge mit Blaulicht zu sehen.“Von seinem Balkon aus konnte er direkt auf die Bombe schauen, bevor er mit seiner Familie das Haus verlassen musste. „Wir sind dann zur Schwiegermutter nach Stockum gefahren und haben dort übernachtet. Man konnte ja überhaupt nicht abschätzen, wie lange sich das alles hinzieht.“Wie recht er doch behalten sollte.