Szenarien einer Krise
Gegen die Coronavirus-Pandemie helfen im Moment nur drastische Maßnahmen. Da sind sich Politik und britische sowie deutsche Forscher einig. In einer Studie wurden strenge Regeln über viele Monate hinweg simuliert.
DÜSSELDORF Wenn sich eine Mannschaft im Fußball den Ball locker in den eigenen Reihen hin und her passt, nur noch wenige Minuten zu spielen sind und das Team auch noch führt, hörte man bis vor ein paar Tagen noch von den Rängen: Zeitspiel! Denn das Ziel ist es, Zeit zu schinden, um den Sieg davonzutragen. Deutschland betreibt gerade Zeitspiel. Im Kampf gegen das Coronavirus fährt die Bundesrepublik wie andere EU-Staaten die Systeme herunter. So erhofft man sich, Zeit zu gewinnen, Zeit, die es braucht, bis ein Impfstoff oder ein Medikament gegen den Erreger entwickelt und verfügbar ist.
Doch in welcher Konzentration sind die Eindämmungsmaßnahmen am wirkungsvollsten? Darüber rätselt auch die Wissenschaft. Forscher um den Modellierer Neil Ferguson vom Imperial College in London haben nun versucht, diese Frage mithilfe einer Modellrechnung zu beantworten. Die Wissenschaftler analysierten den Einfluss von fünf verschiedenen Maßnahmen in unterschiedlichen Szenarien für das Vereinigte Königreich und die USA. Dafür legten die Forscher gewisse Annahmen zugrunde, die, das sei direkt klargestellt, nicht eins zu eins auf Deutschland oder andere Regionen übertragbar sind. So ging man beispielsweise von einer mittleren Inkubationszeit von 5,1 Tagen aus, die Infektionssterblichkeitsrate setzte man bei 0,9 Prozent an, die Zahl der Menschen, die ins Krankenhaus müssen, schätzte man auf 4,4 Prozent, wovon wiederum 30 Prozent auf die Intensivstation müssen. Die zugrundeliegenden Annahmen basieren hauptsächlich auf Daten aus China, auch Erfahrungen aus Italien flossen mit ein.
Die Forscher unterscheiden zwischen zwei Zielen: Die Ausbreitung des Virus vollständig zu unterbinden („supression“) und dem Eindämmen („mitigation“), was mittlerweile unter dem Ausdruck „flatten the curve“bekannt ist. Die fünf nicht-pharmakologischen Maßnahmen gegen das Virus waren in der Modellrechnung: Isolation eines Infizierten für sieben Tage in seinem Zuhause, freiwillige Quarantäne aller im Haushalt eines Infizierten lebenden Personen für 14 Tage, soziale Distanzierung der über 70-Jährigen, soziale Distanzierung der gesamten Bevölkerung sowie Schließung der Schulen und Universitäten.
Die Autoren der Studie empfehlen die Strategie der vollständigen Unterdrückung mittels der fünf Maßnahmen. Weite Teile davon hat Deutschland bereits umgesetzt. Die Wirkung von Ausgangsbeschränkungen oder Geschäftsschließungen, wie sie am Sonntag beschlossen wurden, wurde nicht genau untersucht. Insgesamt sind die Maßnahmen in der Modellrechnung der Forscher fünf Monate in Kraft. Eine herbe Prognose für jeden Einzelnen.
Sollte nach diesen fünf Monaten jedoch kein Impfstoff gefunden sein – und danach sieht es aus – machen die Forscher eine ernüchternde Bemerkung: Nach dem Lockern der Maßnahmen würden die Fallzahlen wieder drastisch steigen. In allen Szenarien würde das Gesundheitssystem stark belastet. Die Wissenschaftler schlagen daher ein an die Fallzahlen angepasstes Ein- und Ausschalten der Maßnahmen vor. Mithilfe der Eindämmungen würde man also die Fallzahlen auf ein niedriges Niveau bringen, dann würde man sie wieder lockern. Sobald die Zahlen wieder ein bestimmtes Niveau übersteigen, würden die Regeln wieder in Kraft gesetzt. Das sollte man im Idealfall so lange machen, bis ein Impfstoff zur Verfügung steht. Das wird nach jetzigem Stand nicht vor 2021 der Fall sein.
Die Studie ist die bisher umfassendste zu dem Thema. Viele Parameter lassen sich aber nicht auf das deutsche Gesundheitssystem projizieren. So gibt es in Deutschland beispielsweise deutlich mehr Intensivbetten pro 100.000 Einwohner als im Vereinigten Königreich – dort sind es acht, hierzulande sind es 30. Obwohl sich einige „steile Annahmen“in der Modellierungsstudie befänden, hält der Berliner Virologe Christian Drosten sie im Kern für auf Deutschland übertragbar.
Auch die Deutsche Gesellschaft für Epidemiologie kommt in einer aktuellen Stellungnahme zu ähnlichen Ergebnissen. Sie weist aber darauf hin, dass aufgrund des aktuell noch eingeschränktenWissens zumVerhalten von Sars-CoV-2 noch zahlreiche Unsicherheiten existieren. Ein wichtiger Parameter zur Modellierung sei die sogenannte Basisreproduktionszahl (R0), heißt es. Diese gibt an, wie viele Personen von einer infizierten Person im Durchschnitt angesteckt werden, wenn keine Infektionskontrollmaßnahmen durchgeführt werden und keine Immunität in der Bevölkerung vorliegt. Für das neue Coronavirus wird R0 auf zwei bis drei geschätzt. Würde man sich nun „ein Szenario vorstellen, in dem keine Kontrollmaßnahmen durchgeführt werden und keine spontanenVerhaltensänderungen stattfinden, würden sich unter der Annahme, dass alle Personen nach einer Infektion einen Immunschutz ausbilden im Verlauf des Ausbruchs etwa 50 bis 70 Prozent der Bevölkerung, anfangs mit exponentiell steigender Geschwindigkeit, infizieren“, heißt es. Der Höhepunkt der Epidemie läge dann in diesem Sommer.
Die deutschen Epidemiologen weisen darauf hin, dass auch mäßig verlangsamte Verläufe der Infektionsausbreitung zu einem Infarkt des Gesundheitssystems führen würden. Erst eine Senkung der Reproduktionszahl in den Bereich von 1 bis 1,2 würde das Gesundheitssystem nicht zu stark belasten. Die dafür notwendigen Maßnahmen müssten aber so schnell wie möglich erfolgen und über„die nächsten Monate“aufrecht erhalten werden.
Aktuell liege ein kurzes Zeitfenster vor, in dem die Entscheidung zwischen Eindämmung und Verlangsamung der Infektionsausbreitung noch ohne Überlastung des Gesundheitssystems erfolgen könne.
Der wichtigste Satz steht aber ganz am Ende des Dokuments: „Da es derzeit keine kausale Therapie oder präventive Impfung gibt, ist es in der aktuellen epidemiologischen Situation wichtig, die Bevölkerung zu überzeugen, freiwillig und konsequent zur Einschränkung der Übertragung beizutragen.“