Kommunalpolitiker fordern Wahlverschiebung
Sie sehen die Chancengleichheit gefährdet. Die kommunalen Spitzenverbände regen als Alternative eine reine Briefwahl an.
DÜSSELDORF Als er den Erlass aus dem NRW-Innenministerium vom 19. März in den Händen hielt, platzte Jens Niklaus der Kragen:„Das Schreiben hat mich maßlos geärgert, weil die Landesregierung die Verantwortung auf die Ehrenamtler abwälzt“, sagt der SPD-Vorsitzende des Ortsvereins Haan-Gruiten. In dem Erlass hatte das Ministerium zwar eine Aussetzung der Kandidatenaufstellungen für die Kommunalwahl bis zum Ende der Osterferien empfohlen, die Entscheidung aber letztlich den Parteien vor Ort überlassen. Und vom eigentlichen Wahltermin und damit dem Zwang, bis zum 16. Juli alle Kandidaten ordnungsgemäß aufgestellt zu haben, rückte es nicht ab.„Anstatt klar zu sagen, wir verschieben und machen es dadurch auch den Delegierten über 70 möglich, nach einer Entspannung der Lage weiterzumachen, dürften wir sogar in den Osterferien tagen. Aber das kann niemand ernsthaft in Betracht ziehen“, sagt Niklaus.
Auch Stefan Meyer (Name von der Red. geändert) läuft die Zeit davon. Er möchte als parteiloser Kandidat für das Landratsamt in seinem westfälischen Heimatkreis kandidieren. Noch hat er seine Kandidatur nicht bekannt gegeben. „Wenn Corona nicht gewesen wäre, hätte ich längst mit demWahlkampf begonnen“, sagt er. Nun aber sieht er die Chancengleichheit in Gefahr. „Als Parteiloser muss ich alles selbst finanzieren – ein nicht unerhebliches finanzielles Wagnis.“Er schätzt, dass er mindestens 15.000 Euro aus seinem Privatvermögen für Flyer, soziale Medien und einen vernünftigen Internetauftritt investieren muss.„Außerdem gehört es ja zumWahlkampf dazu, sich auf der Straße zu zeigen, mit den Leuten zu sprechen. Gerade als Parteiloser ist das enorm wichtig.“
Meyer muss zunächst eine dreistellige Zahl an Unterschriften in
seinem Kreis sammeln, um antreten zu dürfen. Die nötigen Unterlagen hat er erst vergangeneWoche zugestellt bekommen. „Wegen Corona kann ich aber gar nicht von Haustür zu Haustür gehen, geschweige denn einen Stand in einer Stadt im Kreis aufstellen“, sagt er. Die Unterschriften müsste er dann den Ämtern der Städte und Gemeinden zur Prüfung auf Echtheit vorlegen – die sind aber größtenteils geschlossen.
Die kommunalen Spitzenverbände in NRW verweisen noch auf ein anderes Problem: Weil auch die Meldebehörden zurzeit nur im Notbetrieb arbeiteten, würden An- und Ummeldungen gar nicht oder nur eingeschränkt durchgeführt. „Dies hat möglicherweise Auswirkungen auf die Wählerverzeichnisse, die zurzeit nicht absehbar sind“, warnen der Städte- und Gemeindebund, der Städtetag und Landkreistag von NRW in einem gemeinsamen Brief an das Innenministerium.
Neben einer Verschiebung der Wahl haben sie auch eine ausschließliche Briefwahl angeregt. Diese Option sieht auch der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte von der Universität Duisburg-Essen: „Eine Verschiebung wäre mit diesem Verfahren hinfällig“, sagte er unserer
Redaktion. Welche Partei aktuell von einer Verschiebung der Wahlen profitieren würde, kann Korte seriös nicht beantworten.„Alle eingeübten Verfahren sind nicht nutzbar, insofern haben auch die etablierten Parteien Nachteile, die nicht kalkulierbar sind“, so Korte.
Der Wissenschaftler betonte, dass Kandidaten derzeit keine Chance hätten, über direkte, persönliche Ansprache im Nahbereich Einfluss zu nehmen. „Die Logik des Sozialen ist aber wahlentscheidend an der Urne“, so der Essener Politikexperte. Parteiidentifikation präge das Wahlverhalten. „Da aber nur noch wenige über eine Parteiidentifikation verfügen, werden Einflussnahmen über direkte Ansprachen um so wahlentscheidender. Wie sich das virtuell am Ende verteilt, ist aus der Wahlforschung zum jetzigen Zeitpunkt nicht zu beantworten.“
„Das Land wälzt die Verantwortung auf die Ehrenamtler ab“
Jens Niklaus SPD-Ortsvereinsvorsitzender von Haan-Gruiten