„Die Grundrente gehört auf den Prüfstand“
Hessens Ministerpräsident warnt vor einer Überforderung der Staats- und Sozialkassen durch die Corona-Kosten.
Herr Bouffier, Tausende protestieren gegen die Corona-Freiheitsbeschränkungen, obwohl sie gelockert werden. Was sagen Sie denen?
BOUFFIER Wir schreiben den Menschen nicht vor, alles gut zu finden. Wenn man sich anschaut, wer da unterwegs ist, ist das derzeit eine überschaubare Größe. Es ist ein buntes Gemisch von links- bis ganz rechtsextrem, Staatsverweigerer sind auch dabei, aber auch besorgte Menschen, und natürlich nehmen wir diese mit ihren Fragen und Argumenten ernst.Wir sind ein freies Land. Hier darf man protestieren.
Wenn man die Verschwörungstheorien im Netz sieht, wirkt das alles aber nicht sehr überschaubar. Sehen Sie keine Gefahr, dass die Stimmung in der Bevölkerung kippt?
BOUFFIER Nein. Man darf die sozialen Netzwerke nicht mit der Wirklichkeit verwechseln. Dort können Sie als kleine Gruppe großeWirkung erzielen. Ich habe einen ganz guten Einblick: Die Bürger halten unsere Maßnahmen im Großen und Ganzen für angemessen. Das weisen auch die Zahlen aus.
Kleine Gruppe, große Wirkung – so hat die AfD auch angefangen. Damals haben die demokratischen Parteien geschlafen. Sind sie jetzt bei der neuen Entwicklung wach?
BOUFFIER Geschichte wiederholt sich nicht, aber man sollte aus ihr lernen. Wir dürfen Maßnahmen nicht nur verkünden, sondern müssen sie erklären. Die Pandemie ist nicht bewältigt. Wir haben keine Medikamente und keinen Impfstoff dagegen. Gerade die Kontaktunterbrechungen haben dazu geführt, dass unser Gesundheitssystem nicht überfordert wurde. Das heißt, die Maßnahmen waren richtig, und das muss auch erklärt werden.
Kann sich Deutschland einen zweiten Shutdown leisten?
BOUFFIER Deutschland könnte es zumindest besser als jedes andere Land in Europa. Und es wird nicht viele in der Welt geben. Wir haben für viele Bereiche Hilfsprogramme. In anderen Ländern herrscht der Eindruck, die Deutschen sind so reich, dass sie jedes Problem wegkaufen – und uns verweigern sie die Hilfe. Wenn wir jetzt zum Beispiel über die Erhöhung von Renten und Löhnen reden, ist das nicht einfach für die Stimmung in Europa.
Also Ihrer Ansicht nach besser keine Rentenerhöhungen und Lohnerhöhungen und lieber Maß halten?
BOUFFIER Ja, auf jeden Fall. Die aktuelle Steuerschätzung zeigt das deutlich. Der Staat nimmt ständig weniger ein und gibt immer mehr aus. Das kann nicht immer so weiter gehen. Vor allem bei den Sozialversicherungen beschließen wir gerade eine ganze Menge an zusätzlichen Leistungen, die auch irgendjemand bezahlen muss.
Wollen Sie Steuern erhöhen?
BOUFFIER Ich glaube nicht, dass irgendjemand in der Union Steuererhöhungen will. Wenn das zarte Pflänzchen wirtschaftlicher Erholung hoffentlich bald blüht, ist es geradezu albern, dann Steuern zu erhöhen.
Dann müssen Sie bei den Staatsausgaben auf die Bremse treten. Ist es sinnvoll, die geplante Grundrente jetzt umzusetzen?
BOUFFIER Ich würde alles auf den Prüfstand stellen, was nicht jetzt zwingend nötig ist. Dazu gehört auch die Grundrente. Die Bundesagentur für Arbeit teilt mit, dass sie am Jahresende kein Geld mehr hat für die Kurzarbeit. Die Krankenkassen teilen mit, dass sie ohne Beitragserhöhungen oder größere Staatshilfen die Leistungen nicht mehr aufrechterhalten können. Die Pflegeversicherung hat das gleiche Problem. Deshalb rate ich dazu,
dass wir noch einmal sorgfältig darüber nachdenken – über die Grundrente und noch das eine oder andere –, ob das jetzt wirklich sein muss. Ich habe da erhebliche Zweifel.
Lufthansa verhandelt mit dem Bund über ein Milliarden-Hilfspaket. Wenn der Steuerzahler das Geld zur Rettung gibt, muss der Staat dann nicht, wie die SPD sagt, Einfluss auf das operative Geschäft bekommen? Konzernchef Spohr will 10.000 Mitarbeiter entlassen.
BOUFFIER Deutschland braucht eine imWeltmaßstab wettbewerbsfähige Airline. Mit guten wirtschaftlichen Strukturen und sozialen Verpflichtungen. Es ist richtig, dass wir der Lufthansa helfen müssen. Sie muss in Deutschland bleiben.Wir müssen aufpassen, dass niemand heimlich die Lufthansa-Aktien aufkauft und dann Druck auf den Konzern ausübt. Wettbewerber kommen aus China, den USA und den Golfstaaten. Die Lufthansa kann aber nicht erwarten, dass wir das Geld geben und keinen sichernden Einfluss in Grundsatzfragen haben – Boni zum Beispiel. Aber aus unternehmerischen Entscheidungen sollte sich die Politik raushalten.
Am Samstag spielt Eintracht Frankfurt gegen Borussia Mönchengladbach.
BOUFFIER Ein echter Kracher.
Es wird getestet, was das Zeug hält, was „Normalbürger“auch gern hätten, um etwa mal wieder ihre Eltern in den Arm nehmen zu können. Können Sie nachempfinden, dass das ein Ungerechtigkeitsgefühl in der Bevölkerung auslöst?
BOUFFIER Ja, sehr gut. Aber: Wir haben in Deutschland proWoche eine Million Tests zur Verfügung. Davon werden nie mehr als 400.000 abgerufen. 3000 Tests sind für die Bundesliga. Auch die Vereine sind Wirtschaftsbetriebe und haben finanzielle Interessen. Das ist nicht unmoralisch. Und klar ist: Testbedarfe aus dem Gesundheitswesen gehen immer vor.
Wird die Saison zu Ende gespielt?
BOUFFIER Ich hoffe schon. Es kann aber passieren, dass bei positiven Tests halbe Mannschaften in Quarantäne müssen und das ganze ausgefeilte Konzept für die Corona-Krise nicht funktioniert. Das ist dann deren Risiko.
Wie gefiele Ihnen Bayerns Ministerpräsident als Kanzlerkandidat?
BOUFFIER Markus Söder hat erklärt, sein Platz sei in Bayern. Ich nehme immer zur Kenntnis, was die Menschen erklären.
Glauben Sie es ihm auch?
BOUFFIER Ich glaube vor allem an den lieben Gott.
Halten Sie eine fünfte Amtszeit von Angela Merkel als Bundeskanzlerin für ausgeschlossen?
BOUFFIER Ich glaube, dass sie das tut, was sie sagt.
Jetzt glauben Sie nicht nur an Gott, sondern auch Frau Merkel.
BOUFFIER Das ist erfahrungsgesättigt.