Der Dramatiker der Deutschen
Im Alter von 89 Jahren ist Rolf Hochhuth gestorben. Sein „Stellvertreter“war ein Angriff auf den Vatikan in Zeiten des Holocausts.
BERLIN Wenn man Rolf Hochhuth traf, hatte er seinen Mantel meist über die Schulter gelegt. Eine Mischung aus Grandseigneur und Feldherr, lässig und herrisch, und beides war Hochhuth. Dazu einer der erfolgreichsten deutschen Dramatiker des 20. Jahrhunderts, einer der wichtigsten der Nachkriegszeit und zugleich einer der umstrittensten. Am Mittwoch ist er in seiner Berliner Wohnung trotz seines hohen Alters überraschend gestorben; 89 Jahre wurde er alt.
JedeWürdigung Hochhuths muss mit dem „Stellvertreter“beginnen, jenes ungeheuerliche hochbrisante Stück über den in der Nazizeit schweigenden Papst Pius XII., das allein wegen seiner Textmasse im Grunde unspielbar war und das in Regisseur Erwin Piscator einen genialen Geburtshelfer fand. Hätte man die gut 200 Seiten Textfassung mit all ihren historischen Exkursen wirklich spielen wollen, wären mehrere Stunden Spielzeit nötig gewesen. Sogar die Regieanweisungen haben das Ausmaß kleinerer Prosatexte. Hochhuth hatte einen Text in der Tradition des dokumentarischen Theaters geschaffen, wie er orthodoxer kaum sein konnte. Der damals 32-jährige Dramatiker sah sich nicht nur in der Rolle des zornigen Aufklärers, sondern eben auch als Historiker, der vor uns eine Vergangenheit ausbreitet, die bis dahin in keinem Geschichtsbuch zu lesen war. Diesmal lautete Hochhuths forsche These: Der Vatikan und an seiner Spitze Papst Pius XII. – Pontifex in den Jahren 1939 bis 1958 – hätten zu wenig gegen den Massenmord an den Juden durch die Nationalsozialisten getan. Als ein „christliches Trauerspiel“wollte in diesem Sinne der Dramatiker sein Stück verstanden wissen.
Die Zeit dazu schien reif zu sein, als „Der Stellvertreter“am 20. Februar 1963 im Theater am Kurfürstendamm zur Uraufführung kam. Denn nach und nach wurden die Fragen nach Schuld und Moral im sogenannten Dritten Reich immer vehementer und lauter gestellt. Hochhuth lieferte dazu den dramatischen Stoff: mit dem zaudernden Papst, dem zynischen KZ-Arzt, mit dem gutmeinenden, aber schuldig werdenden Deutschen Kurt Gerstein und dem Jesuitenpater Riccardo, der sich am Ende den Judenstern anheftet und zum Märtyrer wird. Das Problem des Stücks: Es differenziert nicht, macht Hitler zu einer dämonischen Gestalt, die praktisch nicht von dieser Welt ist, und den Papst zum alleinigen Schuldigen.
Zur Uraufführung des Stücks waren extra Polizeikräfte abgestellt worden, doch dann gab es nur ein paar Buhs. Alles blieb friedlich. Erst nach und nach entwickelte sich das Streitpotenzial mit Aufführungen in Basel, Paris, New York und in bis heute 22 weiteren Ländern. Berühmt ist der Stellvertreter geworden – und damit Geschichte, die gerade mit der Sichtung der vatikanischen Geheimarchive neue Nahrung bekommen wird. Das Erstaunliche am „Stellvertreter“aber ist: wie politisch, aktuell und brisant deutsches Theater einmal war. Und wie wirkungsvoll. So war es sein Stück „Juristen“, das von früheren Nazi-Richtern in der Bundesrepublik handelte und 1978 zum Rücktritt des damaligen baden-württembergischen Ministerpräsidenten Hans Filbinger führte, der im sogenannten Dritten Reich als Marinerichter tätig war.
Konfrontationen, gerne auch Provokationen, waren sein Metier und seine Bühne, auf der er sich erkennbar wohlfühlte. Der Sohn eines Schuhfabrikanten im hessischen Eschwege war in der Nazi-Zeit aufgewachsen. Das war der biografische Hintergrund seines Lebensthemas, das Hochhuth nach seiner Ausbildung zum Buchhändler auch literarisch und ästhetisch umzusetzen verstand.
Fast jedes Stück war eine Erregung wert. Wie „Soldaten, Nekrolog auf Genf“über den englischen Premiere Winston Churchill, wie„Unbefleckte Empfängnis“,„Wessis inWeimar“oder „McKinsey kommt“über Massenentlassungen. In „Judith“griff er auf die biblische Holofernes-Episode zurück, um den Tyrannenmord plausibel zu machen.
Das war ein einfacher, dennoch effektiver Kunstgriff. Nicht immer gelang ihm das so überzeugend. In späteren Jahren ging ihm dann sogar der Ruf voraus, dass er der einzige bedeutsame Dramatiker hierzulande ist, ohne ein echter Dramatiker zu sein.
So etwas hat ihn, der auch Gedichte und Prosa schrieb, natürlich getroffen. Er reagierte darauf nicht verzagt, sondern mit Gegenangriffen. Dazu gehört schließlich auch sein Konflikt mit Claus Peymann um das altehrwürdige Haus des Berliner Ensembles. Zwei Säulenheilige des deutschsprachigen Theaters trafen da aufeinander. Es ging recht profan um Mietverträge, Fristen und Kündigungen – also um das komplette Arsenal, mit dem sich ansonsten der Deutsche Mieterbund zu beschäftigen hat. Hochhuth war Besitzer der Bühne, Peymann der Intendant des Theaters. Schließlich wollte Hochhuth von der vertraglich zugesicherten Möglichkeit Gebrauch machen, jeweils in den Sommerpausen als Gast im eigenen Haus selbst Stücke zu inszenieren. Dagegen aber wehrte sich Peymann mit Händen und Füßen. Ein kleines Drama, das Hochhuth natürlich kränken musste. Hochhuth machte auch mit an
deren bedenklichen Auftritten auf sich aufmerksam. Mit seinem Lob etwa auf den britischen Historiker und Holocaust-Leugner David Irving, das Hochhuth später jedoch revidierte.
Auch düstere Prognosen liebte er. Wie seine Überzeugung, dass eine schon bald Revolution kommen werde, „in der ruchlos gemordet wird“, wie er uns einmal sagte. „Es wird ein Che Guevara kommen, der all dem ein Ende setzt. Und danach soll es dann in der Welt tatsächlich gerechter werden.“
Eine Frage, die sich bei großen Schriftstellern irgendwann immer stellt:Was wird bleiben vom seinem Werk? Die Zeit hat diese Frage bei Hochhuth eigentlich schon beantwortet. Denn es ist in den vergangenen Jahren immer stiller geworden umWerk und Autor, der bis vor kurzem noch produktiv war – und wahrscheinlich für sich auch sein musste. „Wenn wir nicht mehr da sind, werden wir auch schnell vergessen sein“, meinte er illusionslos und keineswegs kokettierend.
Nach all den vielen Theaterstücken, Geschichten, Gedichten und Essays, nach all dem Abarbeiten an Deutschland und deutscher Gesichte, haben wir von Hochhuth wissen wollen, worin sich der Dramatiker Hochhuth geirrt habe? „Mir wird zunehmend deutlicher, dass ich wohl das deutsche Volk zu schlecht charakterisiert habe. Das deutsche Volk war nicht schlechter als andere. Trotzdem bleibt natürlich unsere Schuld, wir können uns durch den Vergleich mit anderenVölkern nicht rechtfertigen oder freisprechen.“
„Wenn wir nicht mehr da sind, werden wir auch schnell vergessen sein“
Rolf Hochhuth