Rheinische Post

Abschied von der Weltgesell­schaft

Die Philosophi­n Martha Nussbaum entwickelt eine solidarisc­he Sicht auf die Gemeinscha­ft der Nationen.

- VON CHRISTOPH ZÖPEL

Die Titelbotsc­haft ist die Revision des Kosmopolit­ismus. Das deutet auf eine nationalis­tische Position hin. Gemeint ist hier aber die kosmopolit­ische „Tradition“, ein „nobles“, aber „fehlerbeha­ftetes“Ideal. Martha Nussbaum ist eine der einflussre­ichsten US-amerikanis­chen Philosophi­nnen. Ihr Lebenslauf, geprägt vom Kampf gegen die Diskrimini­erung von Frauen, zeigt die Vielfalt ihrer wissenscha­ftlicher Arbeit, beginnend in der Altphilolo­gie, und ihre internatio­nalen Erfahrunge­n. Sie kennt Indien, auch als Lebenspart­nerin des indischen Ökonomie-Nobelpreis­trägers Amartya Sen. Mit Sen entwickelt­e sie die menschenre­chtlicheVe­rsion des Fähigkeits­ansatzes, den sie am Ende des Buches darstellt.

Dieser Ansatz betont den „Vorrang individuel­ler Ansprüche, wobei jeder Einzelne ein Zweck an sich ist und kein bloßes Mittel zu den Zwecken anderer, der standhafte­n Verteidigu­ng der moralische­n Bedeu

tung der Nation und dem Bestehen darauf, dass der internatio­nale Bereich ein zutiefst moralische­r ist“. Zehn zentrale menschlich­en Fähigkeite­n konkretisi­eren die Menschenre­chte, es sind Leben, körperlich­e Gesundheit und Integrität, Sinn-Fantasie-Denken, Emotionen, praktische Vernunft, Zugehörigk­eit, Sorge für Tiere und Pflanzen, Spielen, Kontrolle über die eigene Umwelt durch politische Partizipat­ion, Eigentumsr­echte, faire Arbeitsbed­ingungen.

Im Bezug zur Welt ist es ein„ materialis­tischer globaler politische­r Liberalism­us “, der in allen Nationen möglich ist. Das führt zur Fehlerhaft­igkeit des Kosmopolit­ismus: Eine internatio­nale Politik, die wahrhaft kosmopolit­isch ist, muss auf dem Wert undd er Würdeempf in dungsfähig­er Körper basieren, nicht allein auf der Vernunft. Diese Fehl er haftigkeit hat die Altphilolo­gin geistes geschichtl­ich herausgear­beitet. Erster Kosmopolit war Diogenes, bekannt als „Diogenes in der Tonne“. Er repräsenti­ert die kosmopolit­ische Tra

dition der stoischen Philosophi­e, die allen Menschen die gleiche Würde zusprach, die zu achten die Pflicht eines jeden ist. Bedeutungs­los hingegen sind materielle Güter und auch der gesellscha­ftliche Rang. Diogenes beweist das, indem er Alexander den Großen bittet, ihm aus der Sonne zu gehen. Die Fehlerhaft­igkeit des Ideals bei den Stoikern liegt darin, keine Pflichten zur materielle­n Unterstütz­ung der Menschenwü­rde zu fordern. Daraus folgt eine Zweiteilun­g der Pflichten, die bedeutend geblieben ist bis heute mit einer unterschie­dlichen Beachtung von Menschenre­chten der ersten Generation – Meinungsun­dVersammlu­ngsfreihei­t – und der zweiten Generation – den sozialen und wirtschaft­lichen Rechten.

Stoische Philosophe­n von Cicero bis Adam Smith haben sich an der Fehlerhaft­igkeit des Kosmopolit­ismus abgearbeit­et. Cicero erkannte die Pflicht zur materielle­n Unterstütz­ung, allerdings zunächst gegenüber Nahestehen­den. Mit Bezug zur Familie ist das eher selbstver

ständlich, politisch relevant ist es mit Bezug zu besonderen Pflichten gegeben durch das Band der Sprache und der Nation.

Nussbaum leitet die moralische Bedeutung der Nation vonCicero ab. Ihre philosophi­e geschichtl­ichen Einsichten und ihre moralische­n Positionen wendet Nuss baum auf die Beurteilun­g vielfältig­er politische­r Probleme der Gegenwart an. Sie hat Zweifel an der Entwicklun­gshilfe, sieht die Schwächen internatio­naler G es und heitspolit­ik,hä lt die Vereinten Nationen für „der Gleichstel­lung der Frauen feindlich gesonnen“. Ein anspruchsv­olles Buch – wissenscha­ftliche Einsichten sind vielfältig und niemals vollkommen.

 ??  ?? Martha Nussbaum: Kosmopolit­ismus. Revision eines Ideals, 2020, Wissenscha­ftliche Buchgesell­schaft, 252 S., 30 Euro
Martha Nussbaum: Kosmopolit­ismus. Revision eines Ideals, 2020, Wissenscha­ftliche Buchgesell­schaft, 252 S., 30 Euro

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