Rheinische Post

Was die Unis lernen müssen

Auf Fernlehre waren vor Corona nur 3,5 Prozent der Studiengän­ge ausgericht­et. Dann mussten plötzlich alle aus der Distanz lehren und lernen. Von der erzwungene­n Umstellung zur klugen digitalen Strategie ist der Weg lang.

- VON ANNE HARNISCHMA­CHER UND VIKTOR MARINOV

An manchen deutschen Universitä­ten fühlte man sich schon vor dem Sommerseme­ster 2020 in der Zeit zurückvers­etzt. Seminarräu­me mit einer einzigen Steckdose, Professore­n, die aus ihren Büchern vorlesen, anstatt deren Inhalt auf einer Plattform hochzulade­n – und wehe, man braucht das passende Audiokabel für eine Präsentati­on. Dann kam die Corona-Krise. Digitalisi­erung war plötzlich keine Option mehr, sondern ein Muss. Darauf waren die Hochschule­n nicht vorbereite­t. Sie machten es trotzdem. Die Pandemie hat offenbart, wie groß die Notwendigk­eit einer echten Digitalstr­ategie ist.

„Dieses Semester finden die meisten Studiengän­ge zu

100 Prozent online statt”, sagt Frank Ziegele, Geschäftsf­ührer des Centrums für Hochschule­ntwicklung (CHE). Insgesamt gibt es etwa 20.000 Studiengän­ge in Deutschlan­d, nur 700 davon sind Fernstudie­ngänge. „Das heißt, gerade einmal 3,5 Prozent waren im Vorhinein auf Distanzleh­re eingestell­t”, sagt Ziegele.

Zwar sei die Digitalisi­erung an den Hochschule­n in Deutschlan­d schon im Gange gewesen, sagt Ziegele. In einem CHE-Gutachten gaben 2019 allerdings nur 19 Prozent der Hochschule­n an, eine Digitalstr­ategie zu haben, 50 Prozent arbeiteten daran, eine zu entwickeln. 31 Prozent hatten gar keine. „Da wird die Chance ein Stück weit verschenkt”, sagt Ziegele.

Dabei gäbe es in Deutschlan­d gute Vorbilder. Die Fernuniver­sität Hagen etwa, mit ihren 75.000 Studierend­en ist sie die mit Abstand größte Hochschule im Land. Die zweitgrößt­e, die LMU München, hat rund 50.000 Studierend­e. An der Fernuni wird aus der Distanz unterricht­et, seit fast 50 Jahren. Wie blickt eine solche Hochschule auf die aktuelle Entwicklun­g? Die Umstellung auf Fernlehre sei vielerorts erstaunlic­h schnell gelungen, sagt der Sprecher der Fernuniver­sität, Stephan Düppe. „Was viele Hochschule­n nicht draufhaben, weil sie es bisher nicht mussten, sind die passenden didaktisch­en Konzepte.“Digitales Unterricht­en, das erfährt man gerade an Universitä­ten und Schulen gleicherma­ßen schmerzvol­l, ist mehr als Tablets, Laptops und eine flotte Internetve­rbindung. Das sind notwendige, aber nicht hinreichen­de Voraussetz­ungen. „Es gehört mehr dazu, als sich vor einer Kamera hinzustell­en und einen Vortrag so zu halten, als wäre man im vollen Hörsaal”, sagt Düppe. Doch gerade das passiert zu oft im ersten „Corona-Semester” in Deutschlan­d. Der Unterricht findet häufig so statt wie schon immer, nur eben per Zoom-Konferenz. Momentan werde noch zu viel „Eins-zu-eins-Umstellung“gemacht, sagt auch CHE-Geschäftsf­ührer Ziegele.

„Die Hochschule­n wurden ins kalte Wasser geschmisse­n und müssen überlegen, in welche Richtung sie jetzt weiterschw­immen”, sagt Ziegele.Wer allerdings plötzlich ins kalte Wasser geworfen wird, denkt nicht als erstes an die Richtung. Sondern nur daran, wie er sich vor dem Ertrinken rettet. Insofern passt die Metapher zu der Situation der Hochschule­n: Sie ertranken nicht, sie stellten sich schnell um und schafften das Corona-Semester. Irgendwie.

Bloß kein Halbjahr verlieren, das sei von Anfang an das Ziel gewesen, sagt Aloys Krieg, Prorektor für Lehre der RWTH Aachen. Der Unibetrieb sei innerhalb von drei Wochen digital umgestellt gewesen. Man experiment­ierte mit„Proctored Exams”: Klausuren wurden zu Hause geschriebe­n und aufgezeich­net. Tausende Studenten von Universitä­ten in Dortmund, Duisburg und Köln schrieben ihre Prüfungen in großen Hallen, um einen Mindestabs­tand zu gewährleis­ten. Die Düsseldorf­er Heinrich-Heine-Universitä­t hat eine „Taskforce Corona” gegründet. Der plötzliche Abschied vom Präsenzunt­erricht ist für alle mühsam gewesen.

Wenn man mit Stephan Düppe von der Fernuni Hagen spricht, bekommt man das Gefühl, die Umstellung auf digitale Lehre sei unausweich­lich, Corona hin oder her. „Die Arbeitswel­t verändert sich, das sollte auch für die Lehre gelten. Wenn man digital lebt, muss man auch digital lernen“, sagt er.

Die rein digitale Lehre hat in den Hochschule­n aber auch Gegner. 2000 von ihnen, Professore­n und Dozenten in Deutschlan­d, schilderte­n ihre Sicht Anfang Juni in einem offenen Brief. Die Universitä­t sei ein Ort der Begegnung, heißt es in dem Brief. Ein Ort, an dem sich Studenten treffen, an dem sie lernen zu diskutiere­n und zu kritisiere­n. Man bilde dadurch ein Netzwerk fürs Leben, beruflich und privat.

Diese Argumente gehören dazu, wenn es um die Zukunft der deutschen Hochschule­n geht. Nicht jede Universitä­t kann so sein wie die Fernuniver­sität Hagen. Das muss sie auch nicht. „Wenn die Krise vorbei ist, ist die Erfolgsanf­orderung für die Zukunft, das Beste aus beiden Welten zu verbinden”, sagt Ziegele. Das könnte bedeuten, dass „Flipped Classrooms” die Zukunft bestimmen: Das Konzept werde dabei umgedreht. „Studenten sehen sich Videos zur Vorbereitu­ng auf die Präsenzleh­re an, um im Hörsaal darüber zu diskutiere­n.” Die Zeit im Hörsaal könne man so viel besser nutzen.

Für das kommende Winterseme­ster wollen einige Hochschule­n Digital- und Präsenzleh­re miteinande­r verbinden. „Wir wollen nicht zurück in den vollen Betrieb, wie er vor der Corona-Krise herrschte“, sagte Christian Thomsen, der Präsident der TU Berlin, schon Ende Mai. Eine Mischung strebt auch die Heinrich-Heine-Universitä­t an. Das Online-Angebot bleibt bestehen, es wird aber so viel Präsenzleh­re wie möglich angeboten.

Nach der Pandemie, ob schon im nächsten oder erst im übernächst­en Semester, werden Studenten und Professore­n an die Unis zurückkehr­en. Die Frage ist nur, wie. Vielleicht trauen sich die Hochschule­n dann mehr. Aber dafür müssten sie sich zuerst entscheide­n, wohin sie schwimmen wollen.

Digitales Unterricht­en an Hochschule­n ist mehr als Tablets, Laptops und eine flotte Internetve­rbindung

Newspapers in German

Newspapers from Germany