Was die Unis lernen müssen
Auf Fernlehre waren vor Corona nur 3,5 Prozent der Studiengänge ausgerichtet. Dann mussten plötzlich alle aus der Distanz lehren und lernen. Von der erzwungenen Umstellung zur klugen digitalen Strategie ist der Weg lang.
An manchen deutschen Universitäten fühlte man sich schon vor dem Sommersemester 2020 in der Zeit zurückversetzt. Seminarräume mit einer einzigen Steckdose, Professoren, die aus ihren Büchern vorlesen, anstatt deren Inhalt auf einer Plattform hochzuladen – und wehe, man braucht das passende Audiokabel für eine Präsentation. Dann kam die Corona-Krise. Digitalisierung war plötzlich keine Option mehr, sondern ein Muss. Darauf waren die Hochschulen nicht vorbereitet. Sie machten es trotzdem. Die Pandemie hat offenbart, wie groß die Notwendigkeit einer echten Digitalstrategie ist.
„Dieses Semester finden die meisten Studiengänge zu
100 Prozent online statt”, sagt Frank Ziegele, Geschäftsführer des Centrums für Hochschulentwicklung (CHE). Insgesamt gibt es etwa 20.000 Studiengänge in Deutschland, nur 700 davon sind Fernstudiengänge. „Das heißt, gerade einmal 3,5 Prozent waren im Vorhinein auf Distanzlehre eingestellt”, sagt Ziegele.
Zwar sei die Digitalisierung an den Hochschulen in Deutschland schon im Gange gewesen, sagt Ziegele. In einem CHE-Gutachten gaben 2019 allerdings nur 19 Prozent der Hochschulen an, eine Digitalstrategie zu haben, 50 Prozent arbeiteten daran, eine zu entwickeln. 31 Prozent hatten gar keine. „Da wird die Chance ein Stück weit verschenkt”, sagt Ziegele.
Dabei gäbe es in Deutschland gute Vorbilder. Die Fernuniversität Hagen etwa, mit ihren 75.000 Studierenden ist sie die mit Abstand größte Hochschule im Land. Die zweitgrößte, die LMU München, hat rund 50.000 Studierende. An der Fernuni wird aus der Distanz unterrichtet, seit fast 50 Jahren. Wie blickt eine solche Hochschule auf die aktuelle Entwicklung? Die Umstellung auf Fernlehre sei vielerorts erstaunlich schnell gelungen, sagt der Sprecher der Fernuniversität, Stephan Düppe. „Was viele Hochschulen nicht draufhaben, weil sie es bisher nicht mussten, sind die passenden didaktischen Konzepte.“Digitales Unterrichten, das erfährt man gerade an Universitäten und Schulen gleichermaßen schmerzvoll, ist mehr als Tablets, Laptops und eine flotte Internetverbindung. Das sind notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzungen. „Es gehört mehr dazu, als sich vor einer Kamera hinzustellen und einen Vortrag so zu halten, als wäre man im vollen Hörsaal”, sagt Düppe. Doch gerade das passiert zu oft im ersten „Corona-Semester” in Deutschland. Der Unterricht findet häufig so statt wie schon immer, nur eben per Zoom-Konferenz. Momentan werde noch zu viel „Eins-zu-eins-Umstellung“gemacht, sagt auch CHE-Geschäftsführer Ziegele.
„Die Hochschulen wurden ins kalte Wasser geschmissen und müssen überlegen, in welche Richtung sie jetzt weiterschwimmen”, sagt Ziegele.Wer allerdings plötzlich ins kalte Wasser geworfen wird, denkt nicht als erstes an die Richtung. Sondern nur daran, wie er sich vor dem Ertrinken rettet. Insofern passt die Metapher zu der Situation der Hochschulen: Sie ertranken nicht, sie stellten sich schnell um und schafften das Corona-Semester. Irgendwie.
Bloß kein Halbjahr verlieren, das sei von Anfang an das Ziel gewesen, sagt Aloys Krieg, Prorektor für Lehre der RWTH Aachen. Der Unibetrieb sei innerhalb von drei Wochen digital umgestellt gewesen. Man experimentierte mit„Proctored Exams”: Klausuren wurden zu Hause geschrieben und aufgezeichnet. Tausende Studenten von Universitäten in Dortmund, Duisburg und Köln schrieben ihre Prüfungen in großen Hallen, um einen Mindestabstand zu gewährleisten. Die Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität hat eine „Taskforce Corona” gegründet. Der plötzliche Abschied vom Präsenzunterricht ist für alle mühsam gewesen.
Wenn man mit Stephan Düppe von der Fernuni Hagen spricht, bekommt man das Gefühl, die Umstellung auf digitale Lehre sei unausweichlich, Corona hin oder her. „Die Arbeitswelt verändert sich, das sollte auch für die Lehre gelten. Wenn man digital lebt, muss man auch digital lernen“, sagt er.
Die rein digitale Lehre hat in den Hochschulen aber auch Gegner. 2000 von ihnen, Professoren und Dozenten in Deutschland, schilderten ihre Sicht Anfang Juni in einem offenen Brief. Die Universität sei ein Ort der Begegnung, heißt es in dem Brief. Ein Ort, an dem sich Studenten treffen, an dem sie lernen zu diskutieren und zu kritisieren. Man bilde dadurch ein Netzwerk fürs Leben, beruflich und privat.
Diese Argumente gehören dazu, wenn es um die Zukunft der deutschen Hochschulen geht. Nicht jede Universität kann so sein wie die Fernuniversität Hagen. Das muss sie auch nicht. „Wenn die Krise vorbei ist, ist die Erfolgsanforderung für die Zukunft, das Beste aus beiden Welten zu verbinden”, sagt Ziegele. Das könnte bedeuten, dass „Flipped Classrooms” die Zukunft bestimmen: Das Konzept werde dabei umgedreht. „Studenten sehen sich Videos zur Vorbereitung auf die Präsenzlehre an, um im Hörsaal darüber zu diskutieren.” Die Zeit im Hörsaal könne man so viel besser nutzen.
Für das kommende Wintersemester wollen einige Hochschulen Digital- und Präsenzlehre miteinander verbinden. „Wir wollen nicht zurück in den vollen Betrieb, wie er vor der Corona-Krise herrschte“, sagte Christian Thomsen, der Präsident der TU Berlin, schon Ende Mai. Eine Mischung strebt auch die Heinrich-Heine-Universität an. Das Online-Angebot bleibt bestehen, es wird aber so viel Präsenzlehre wie möglich angeboten.
Nach der Pandemie, ob schon im nächsten oder erst im übernächsten Semester, werden Studenten und Professoren an die Unis zurückkehren. Die Frage ist nur, wie. Vielleicht trauen sich die Hochschulen dann mehr. Aber dafür müssten sie sich zuerst entscheiden, wohin sie schwimmen wollen.
Digitales Unterrichten an Hochschulen ist mehr als Tablets, Laptops und eine flotte Internetverbindung