Rheinische Post

Eine Moschee der Nationalis­ten

- VON SUSANNE GÜSTEN

Die Entscheidu­ng der türkischen Regierung, dass die Hagia Sophia in Istanbul nicht länger Museum sein soll, hat weniger mit islamistis­cher Ideologie zu tun, als man denken könnte. Sie ist vielmehr ein Zeichen der Schwäche von Präsident Recep Tayyip Erdogan.

ISTANBUL Er habe seinen politische­n Kompass noch nicht so weit verloren, dass er sich auf ein solches Spiel einlasse, sagte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan über die Forderung nach der Umwandlung der Hagia Sophia von einem Museum in eine Moschee – vor einem Jahr. Ein Video mit seinen damaligen Äußerungen machte am Wochenende in den sozialen Medien der Türkei Furore; schließlic­h hat Erdogan jetzt genau das getan, was er 2019 noch ablehnte: Er hat die Hagia Sophia zur Moschee erklärt.

Auf den ersten Blick wirkt die Entscheidu­ng wie ein Schritt zur Islamisier­ung der Türkei. Doch Erdogans

Mucahit Bilici Soziologe

Sinneswand­el ist mehr dem wachsenden Einfluss der türkischen Nationalis­ten auf den Kurs des Präsidente­n geschuldet als dem Islamismus.

Graue Eminenz in Ankara ist Devlet Bahçeli, Vorsitzend­er der rechtsgeri­chteten Partei der Nationalen Bewegung (MHP). Der 72-Jährige steht seit 1997 an der Spitze seiner Partei und war lange ein Erzfeind des sechs Jahre jüngeren Erdogan. Noch vor fünf Jahren kündigte Bahçeli an, er werde Erdogan vor Gericht bringen. Im Parlament ist die MHP mit 49 Abgeordnet­en nur viertstärk­ste Kraft; in den Umfragen liegt sie derzeit bei etwa acht Prozent. Doch Bahçelis Macht ist weit größer, als diese Zahlen suggeriere­n.

Heute sind Bahçeli und Erdogan keine Feinde mehr, sondernVer­bündete. Seit zwei Jahren treten AKP und MHP beiWahlen gemeinsam als „Bündnis der Republik“an. Die Allianz ermöglicht es der schwächeln­den MHP, die Zehn-Prozent-Hürde für den Einzug ins Parlament zu umgehen. Umgekehrt ist die MHP die Mehrheitsb­eschafferi­n der AKP in der Volksvertr­etung und ermöglicht Erdogan so das Regieren ohne Widerstand aus dem Parlament. Erdogans Bündnis mit Bahçeli ist ein indirektes Eingeständ­nis, dass die AKP allein keine Mehrheiten mehr gewinnen kann und keine anderen Partner mehr hat.

Die MHP nutzt die Schwäche des größeren Partners aus, und Devlet Bahçeli, dessen Vorname „Staat“bedeutet, ist heute die Macht hinter dem Thron. „Erdogan trägt die Trommel, aber Bahçeli spielt sie“, sagte Opposition­sführer Kemal Kiliçdarog­lu dem Journalist­en und Blogger Murat Yetkin. Vor jeder Entscheidu­ng hole Erdogan das Einverstän­dnis des MHP-Vorsitzend­en ein.

Die Einschätzu­ng mag übertriebe­n sein, aber der Nationalis­ten-Chef hat großen Einfluss auf die Regierung. Vor zwei Jahren war es Bahçeli, der vorgezogen­e Neuwahlen forderte, und es war Erdogan, der sich dieser Forderung beugen musste. Seitdem hat Bahçeli die AKP-Regierung immer weiter nach rechts gedrängt. Der MHP-Chef ist in einer sehr komfortabl­en Lage: Er kann die Politik mitbestimm­en, ohne sich als offizielle­s Mitglied der Regierung der Kabinettsd­isziplin unterwerfe­n zu müssen.

Dieser Einfluss macht sich immer stärker bemerkbar. Die MHP besteht auf einem harten Kurs in der Kurdenpoli­tik und treibt die Verfolgung der Kurdenpart­ei HDP voran. Im Frühjahr setzte Bahçeli eine umstritten­e Teilamnest­ie durch, die einem prominente­n rechtsgeri­chteten Mafiaboss die Freiheit brachte. Seit einiger Zeit erhöhen die Behörden den Druck auf protestant­ische Christen im Land, die von türkischen Nationalis­ten als potenziell­e Staatsfein­de betrachtet werden. In der Diskussion um das Schicksal der Hagia Sophia schloss sich Bahçeli früh den Forderunge­n der Moschee-Anhänger an und brachte Erdogan damit in Zugzwang.

Selbst in Details wird deutlich, wie sehr Erdogan inzwischen auf die Rechten setzt. Der Präsident lässt sich von seinen Anhängern mit „Reis“– Boss – titulieren, einem Begriff aus der rechten Szene und der Unterwelt, wie der Journalist und AKP-Kenner Rusen Çakir anmerkt.

Schon nach den Gezi-Protesten von 2013 habe Erdogans Hinwendung zu den Nationalis­ten begonnen, sagte Çakir im Internet-Fernsehkan­al Medyascope. Mit dem Rechtstren­d habe Erdogan die demokratis­chen Prinzipien der AKP über Bord geworfen: „Er verursacht­e damit die Erosion der Fundamente, auf denen die AKP gebaut ist.“

Besonders schwer fiel Erdogan dieser Schwenk nicht, sagt Mucahit Bilici, Soziologe an der City University in New York, unserer Redaktion. „Erdogan ist das, was ich einen puren Politiker nenne – er vertritt eine Spielart der reinen Politik, die keiner Ideologie oder auch nur Moral verpflicht­et ist.“Es gehe dem Präsidente­n ausschließ­lich um die Macht.

Aus diesem Blickwinke­l ist Erdogans Sinneswand­el bei der Hagia Sophia keine Überraschu­ng. Mit politische­m Islam hat die Entscheidu­ng wenig zu tun, denn der hat sich unter Erdogan „in einen religiös-nationalis­tischen Populismus verwandelt“, wie Bilici formuliert. Auf Glaubwürdi­gkeit erhebe diese Ideologie keinen Anspruch mehr.

„Erdogans Politik ist keiner Ideologie oder Moral verpflicht­et“

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FOTO: IMAGO IMAGES Blick in den Innenraum der Hagia Sophia in Istanbul.

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